Vergiftungen
Vergiftungen bei Kindern
Von Andreas Grote
Tausende von Kindern vergiften sich jedes Jahr in der Schweiz. Wie beugt man Vergiftungsunfällen vor und was ist zu tun, wenn es doch passiert?
Etwa alle 30 Minuten vergiftet sich ein Kind in der Schweiz. «Die allermeisten Kinder tragen zwar keine oder nur milde Symptome davon, auszuschliessen ist ein ernsthafter Fall aber nie», sagt Cornelia Reichert, leitende Ärztin bei Tox Info Suisse, Betreiberin der offiziellen schweizerischen Notrufnummer bei Vergiftungen 145.
Über 80 Prozent der Vergiftungsunfälle bei Kindern und Jugendlichen betreffen die noch sehr vulnerable Gruppe unter 5 Jahren. Erst bei Jugendlichen kommen beabsichtigte Vergiftungen und Substanzmissbrauch dazu.
Gut 17000 unfallmässige Vergiftungsunfälle bei Kindern wurden 2021 gemeldet. «Eltern unterschätzen die Neugierde und den Erfindungsreichtum ihrer Kinder», sagt Cornelia Reichert. Ihre Kolleginnen, Expertinnen auf dem Gebiet, beruhigen und beraten in einem solchen Fall am Telefon die geschockten Erwachsenen. Entscheidend für die Beurteilung der Vergiftung und der einzuleitenden Massnahmen ist die Identifikation des Gifts und die Produktzusammensetzung.
Kinder und gefährliche Substanzen
Am häufigsten sind Expositionen mit gefährlichen Substanzen bei Kleinkindern im Vorschulalter, die das Haus, die Wohnung und den Garten erkunden und dabei durch Klettern auch an scheinbar Unerreichbares gelangen. Die Einsicht und das Verständnis des Kindes, gerade etwas Gefährliches und Verbotenes zu tun, wächst erst mit dem Älterwerden.
Schuldzuweisungen und Strafen sind daher unangebracht, doch sollte man dem Kind erklären, warum es etwas nicht probieren oder anfassen darf. Auch in fremder Umgebung, in den Ferien oder bei Freund* innen müssen Eltern schnell, zumindest grob, die Übersicht gewinnen, was gefährlich sein könnte. Auch Grosseltern sollten auf potenzielle Gefahren in ihrer Wohnung hingewiesen werden.
Häufigste Vergiftungen durch Putzmittel und Medis
Am häufigsten vergiften sich Kinder durch die Einnahme von Medikamenten und Haushaltschemikalien. Bei Medikamenten gelten etwa Antiarrhythmika, Antidepressiva, Diabetesmittel oder Opiate als gefährlich. An Haushaltschemikalien sind für Kinder besonders ätzende Putzmittel wie Backofen-, Grill-, Chemineeglas- und Abflussreiniger ein Problem, weil sie schon in geringen Mengen schwere Schäden verursachen können.
Mit Abstand folgen Pflanzen und Kosmetika. «In der Pandemie erhielten wir auch besorgte Anrufe von Eltern, deren Kinder das Handdesinfektionsmittel probiert haben», berichtet Cornelia Reichert. Allerdings führen Handdesinfektionsmittel meist zu keinen Symptomen oder nur zu leichten Vergiftungserscheinungen.
Vergiftung durch Unachtsamkeit
Auch Erwachsene selbst können durch Unachtsamkeit ihr Kind vergiften. Vor allem bei Medikamenten kommt es oft zu Verwechslungen, wenn etwa eine Schilddrüsentablette des Erwachsenen mit der Fluoridtablette des Kindes verwechselt wird oder Zäpfchen gegen Fieber oder Erbrechen Wirkstoffe oder eine grosse Dosis für Mama und Papa enthalten, und nicht für das erkrankte Kind. Erwachsene vergessen auch mal Entkalker im Wasserkocher, um dann später mit dem entkalkerhaltigen Wasser Babynahrung zuzubereiten.
So beugt man Vergiftungen vor
Im häuslichen Umfeld kann man Vorsichtsmassnahmen treffen, die dazu beitragen, dass es nicht zu einer Vergiftung kommt:
♦ Haushaltschemikalien (z.B. Haushalt- und WC-Reiniger, Entkalker, Rohrreiniger, Desinfektionsmittel, Backofenspray, Frostschutzmittel), Kosmetika (z.B. Seife und Körperpflegeprodukte, Nagelpflegeprodukte, Parfüm, Rasierwasser) und Medikamente immer in der Originalverpackung aufbewahren und auf keinen Fall umfüllen. So können Verwechslungen vermieden und im Falle einer Vergiftung dem Giftnotruf 145 die genaue Bezeichnung des Produkts mit Zusammensetzung und Gefahrenkennzeichnung durchgeben werden, was das Vergiftungsrisiko besser einschätzbar macht.
♦ Haushaltschemikalien, Kosmetika und Medikamente, aber auch Tabakwaren und Alkohol immer für Kinder unerreichbar wegschliessen.
♦ Medikamente nicht vor Kindern einnehmen, das kann zu Nachahmungseffekten führen. Medikamente für Erwachsene und die für Kinder örtlich getrennt aufbewahren, um Verwechslungen zu vermeiden.
♦ Nicht mehr benötigte oder abgelaufene Haushaltschemikalien und Medikamente mindestens einmal im Jahr entsorgen – von ihnen geht dann schon mal keine Gefahr mehr aus.
♦ Keine giftigen Pflanzen im Umfeld von Kindern im Haus, auf Balkon oder Garten platzieren. Verführerisch sind besonders Beeren an Sträuchern wie Eibe, Stechpalme, Zwergmispel, Schneeball, Geissblatt, Oleander, Tollkirsche oder Heckenkirsche und Maiglöckchen. Wenn man unsicher ist, den Namen der Pflanzen herausfinden und sich bei Tox Info Suisse hinsichtlich der Giftigkeit beraten lassen. Auf toxinfo.ch gibt es Listen von giftigen und harmlosen Garten-, Wildund Zimmerpflanzen zum Herunterladen.
♦ Beim Einkauf möglichst weniger giftige Produkte vorziehen, das schont zudem die Umwelt. Im Haushalt mit Kindern auf ätzende Produkte, Lampenöle und flüssige Grillanzünder verzichten.
♦ Im Frühling und Sommer Kinder nie alleine Beeren, Pilze oder Kräuter sammeln lassen: Viele essbare Pflanzen- und Pilzarten haben giftige Doppelgänger (z.B. Bärlauch und Herbstzeitlose oder Wiesenchampignons und Knollenblätterpilz). Poolchemie, Dünger und Schädlingsbekämpfungsmittel gut verschliessen und ausser Reichweite der Kinder aufbewahren.
Wie reagieren bei Vergiftung?
Kommt es doch zu einer Vergiftung, gilt es im Zweifelsfall keine Eigendiagnose zu stellen. «Bei Unsicherheit sollten die Aufsichtspersonen Nummer 145 anrufen», sagt Cornelia Reichert. Die Ärztin rät, sich die Giftrufnummer an eine gut zugehbare Stelle zu kleben und eine Liste für die Erste Hilfe im Vergiftungsfall dazu zu hängen.
Nach Einnahme oder Verschlucken einer giftigen Substanz (wenn das Kind wach ist):
♦ 1 bis 2 dl Wasser, Tee oder Sirup zu trinken geben (bei schäumenden Substanzen nur einen Schluck, bei ätzenden Substanzen möglichst schnell bis maximal 30 Minuten nach Einnahme)
♦ Kein Erbrechen auslösen
♦ Nur auf ärztliche Verordnung: Aktivkohle oder schaumhemmende Medikamente verabreichen
Nach dem Einatmen einer giftigen Substanz:
♦ Für frische Luft sorgen, Kind beruhigen
Nach Hautkontakt mit einer giftigen Substanz:
♦ Benetzte Kleider rasch entfernen, betroffene Hautpartien ausgiebig unter fliessendem Wasser abspülen
♦ Bei nicht verätzter Haut gründlich mit Seife und Wasser nachreinigen
Nach Augenkontakt mit einer giftigen Substanz:
♦ Auge sofort für mindestens 10 Minuten unter fliessendem Wasser ausspülen; Augenlider dabei gut offenhalten
♦ Das nicht betroffene Auge dabei nach oben zeigen lassen, damit die aus dem betroffenen Auge ausgespülte Flüssigkeit nicht noch das gesunde Auge benässt
Bei Bewusstlosigkeit, Krampfanfall, Atemproblemen, starken Schmerzen oder Kreislaufstillstand:
♦ 144 alarmieren (Ambulanz)
♦ Nötigenfalls Fremdkörper, Tablettenreste oder Erbrochenes aus Mund und Rachen entfernen
♦ Beengende Kleidungsstücke lockern
♦ Bei Bewusstlosigkeit und normaler Atmung: Seitenlage
♦ Bei Bewusstlosigkeit und fehlender Atmung: Wiederbelebungsmassnahmen