Elternkolumne
«Ich rede von mir in der dritten Person»
Echt jetzt! Kolumnist Reto Hunziker spricht von sich selbst dauernd in der dritten Person Weshalb wohl? Möglicherweise, so vermutet er, steckt eine Identitätskrise dahinter.
In letzter Zeit rede ich von mir oft in der dritten Person. Genauer: wenn ich mich an meine Tochter wende. «Gibst du dem Papi noch einen Kuss?», «Papi bringt dir grad etwas zu essen», «Papi hat jetzt keine Zeit». Wo ist das Ich geblieben? Irgendwie hat «der Papi» sich eingeschlichen und meinen Platz eingenommen, seit ich das Gefühl habe, meine Tochter verstehe langsam, was ich sage. Ich habe nicht den Eindruck, dass ich es von anderen Eltern oder Grosseltern abgeschaut oder davon gelesen habe, es hat sich schlicht so ergeben. Ist das normal? Ich bin verunsichert.
Auch wenn ich überzeugt bin, vorher kaum von mir in der dritten Person gesprochen zu haben – ausser manchmal scherzhaft: «Hunzi, geile Siech» – , die zweite Person habe ich sicher schon gebraucht. Immer dann nämlich, wenn ich jähzornig werde, sprich im Sport oder bei Computerspielen. Gelingt etwas nicht wie gewünscht, fluche ich «du Vollidiot», meine aber mich. Oder sage zu mir: «Mann, bist du unfähig.» Ein Reflex, keine Ahnung, warum ich das mache. Aber wenn ich das so von aussen betrachte, könnte es darum gehen, mich von den Fehlern oder von meinem Formtief zu distanzieren. Quasi: Das war der Deppen-Hunzi, Helden-Hunzi, jetzt bist du dran! Von dem her eigentlich noch clever und motivierend: kurz einen Schritt zurück machen – ach, das sind doch Tempi passati – wieder nach vorne schauen und Vollgas geben. Man könnte es aber auch als verlogen interpretieren, zumal ich die Schuld auf jemand anderen schieben will (auch wenn der andere wiederum ich ist… äh… bin).
Auch Selbstgespräche führe ich ab und zu, seit ich Kinder habe, öfter. Wieder geht es wohl um Frustbewältigung, vielleicht auch um Selbstbestätigung, Beruhigung. Ich sage Dinge zu mir, die ich eigentlich gerne an andere richten würde. Oder ich rede mit mir, um die Stille zu eliminieren oder eine peinliche Situation wegzubrummeln.
Ich bin also nicht nur ich für mich, sondern manchmal auch du und eben er oder Papi. Ich konjugiere quasi an mir selbst den ganzen Singular durch. Der Pluralis Majestatis stünde auch noch zur Verfügung, muss ich mal ausprobieren. Zweite und dritte Person Plural wären dann schon wieder arg verrückt. Oder was denkt ihr?
Aber zurück zum Illeismus, so lautet nämlich der Fachbegriff für das Reden von sich in der dritten Person. Wer von sich wie von jemand anderem spricht – das ergibt eine kleine Recherche im Web – könnte das rhetorisch meinen oder literarisch, also als Stilmittel. Oder aber er ist einfach nur sehr eitel. Letzteres kann ich verneinen. Was will ich auch vor meiner Tochter eitel sein? Andererseits: Was will ich vor meiner Tochter rhetorisch sein? Oder es geht darum, Emotionen und Stress zu kontrollieren. Auch das erscheint mir seltsam in meinem Fall.
Aus logopädischer und entwicklungspsychologischer Sicht – und dies habe ich extra abgeklärt – gibt es einen guten Grund für Illeismus. Und zwar gebrauchen Kinder unter zwei Jahren den Begriff «Ich» in der Regel nicht, er entwickelt sich erst im dritten Lebensjahr. Die Kleinkinder sprechen bis dahin also selbst von sich in der dritten Person. Und die Eltern passen sich intuitiv an. Nicht nur, indem sie die dritte Person für sich verwenden, auch wählen sie eine hohe Tonlage, wiederholen sich, stellen Fragen, sprechen langsamer und machen Pausen. Sie imitieren also in den Grundzügen das Kind und sind streng genommen nicht ganz sie selbst. Das würde meinen Illeismus und meine kleine Identitätskrise plausibel erklären. Alles normal, schadet nicht, ist sogar natürlich. Da sind wir aber froh.
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