Corona
Unsportliche Kinder wegen Corona?
Die Pandemie hat bei vielen Kindern zu Bewegungsmangel geführt. Sportwissenschaftler Ingo Froboese über Senioren-Diagnosen bei Kindern, elterliches Versagen und Ausflüge mit dem Smartphone in den Wald.
wir eltern: Während der Pandemie waren viele Sportangebote phasenweise nur eingeschränkt nutzbar. Hat das langfristig Folgen für die Gesundheit der Kinder?
Ingo Froboese: Die Folgen von einem Jahr Bewegungsmangel sind gewaltig. Kinderärzte stellen Diagnosen, die einst Senioren vorbehalten waren: Das Gewicht nimmt zu – und die Koordination, die Muskelkraft und die Ausdauer nehmen ab. Denn Bewegung ist enorm wichtig für die Entwicklung: Koordination und Kondition lernen Kinder nur, indem sie sich im Raum bewegen. Und man darf nicht vergessen: Bei jedem Sprung, jedem Sprint verbrennt der Körper auch Kalorien. Bewegen sich Kinder zu wenig, werden sie dick.
Aber jetzt sind Freibäder und Sportanlagen offen, Trainings und auch Wettkämpfe wieder möglich. Kann man das vergangene Jahr nicht einfach als eine Art Sport-Sabbatical sehen und das Verpasste jetzt aufholen?
Die Biologie kennt leider keine Pandemie: Für bestimmte körperliche Entwicklungen braucht es bestimmte sportliche Reize. Bleiben die aus, findet die entsprechende Entwicklung nicht statt – und das lässt sich häufig auch nicht mehr aufholen. Bei Vorschulkindern etwa muss das Skelettsystem regelmässig durch Hüpfen, Laufen und Springen aus der Komfortzone geholt werden, damit die Knochen wachsen und stabil werden. Passiert das nicht, kann es im Erwachsenenalter zu Osteoporose, brüchigen Knochen, kommen.
Und bei älteren Kindern?
Grundschulkinder brauchen unbedingt Reize für die Koordination. Sie sollten viel krabbeln, kriechen, robben und toben, damit sie später andere Fertigkeiten wie etwa eine Rolle rückwärts lernen können. Und für 9- bis 12-jährige Kinder sind sportliche Wettkämpfe wichtig, sowohl für die emotionale wie auch für die kognitive Entwicklung. Das alles fand in diesem Pandemie-Jahr vielerorts zu wenig oder gar nicht statt. Ich glaube deshalb, dass wir die Folgen von Corona noch in zehn, zwanzig, dreissig Jahren sehen werden.
Es droht uns durch Corona also eine Generation von dicken, unsportlichen Kindern?
Ich fürchte, ja. Wir verlieren durch Corona tatsächlich viele Talente. Und damit meine ich nicht nur die Talente für den Leistungssport, sondern vor allem die Talente für ein lebenslanges Sporttreiben. Denn mit acht, neun Jahren schliesst sich das Zeitfenster, bis zu dem Kinder Spass an Bewegung entwickeln und für den Rest ihres Lebens abspeichern.
Wenn sie bis dahin nicht vielfältige Sporterfahrungen machen durften, bestehen grosse Chancen, dass die Kinder später lieber am Computer oder vor dem Fernsehen sitzen, als draussen auf dem Sportplatz herumzutoben.
Kinder sind im jungen Alter meist sehr bewegungsfreudig. Wieso geht diese Lust an der Bewegung oft verloren?
Weil die Eltern versagen. Ein Kleinkind lernt laufen, es fällt hin, steht wieder auf und erfreut sich an seiner Beweglichkeit. Diese natürliche Bewegungsfreude gilt es von klein auf zu fördern – vor allem, indem man die Kinder nicht mit ständigen Verboten und besorgten Ermahnungen einschränkt. Man braucht nicht dauernd Angst haben, dass den Kleinen etwas passiert.
Von sich aus machen die Kinder meist nur, was sie auch können oder was an der Grenze zu dem liegt, was sie können. Es ist für den Nachwuchs wichtig und spannend, die eigenen Grenzen auszureizen, um die eigenen Fähigkeiten erweitern zu können. Man darf sie nur nicht bremsen.
Manche Kinder – und auch Eltern – erliegen nicht erst seit Corona trotz guter Vorsätze den Verlockungen von Computer und Smartphone. Haben Sie einen Trick gegen Dauer-Daddeln?
Natürlich können Sie versuchen, die tägliche Daddel-Zeit durch Regeln zu begrenzen. Aber das führt oft zu motzigen Reaktionen. Machen Sie Kindern stattdessen lieber attraktive Alternativangebote: Packen Sie beim Ausflug ins Grüne einen Fussball zum Kicken ein, laufen Sie durch den Wald, gehen Sie auf Entdeckungsreise, erforschen Sie Höhlen, klettern Sie gemeinsam auf kleinere Felsen oder Bäume.
Kinder sind von Natur aus aktiv, man muss nur das Umfeld für Bewegung schaffen, sich dafür Zeit nehmen – und selbst Bewegung vorleben. Spielerische Herausforderungen wie «Kannst du über den Baumstamm balancieren?» oder «Springen wir über den Bach dort!» klingen nach Abenteuer und machen Spass. Bei älteren Kindern können Sie das Handy auch mit in die Outdoor-Aktivität einbeziehen.
Wirklich? Wenn die Kinder mit ihren Handys durch den Wald rennen, auf der Suche nach irgendwelchen Schätzen oder Pokémons, ist das doch auch nur die Verlagerung des Daddelns an die frische Luft.
Ich sage immer: Wir müssen alle Chancen nutzen! Wer heute Kinder zu mehr Bewegung motivieren will, sollte die Macht von Online-Medien nicht ignorieren. Der Trend Geocaching, also die Schatzsuche mithilfe eines GPS, ist ein gutes Beispiel. Klar kann man sich darüber aufregen, dass Kinder und Jugendliche mit dem Smartphone durch den Wald laufen. Aber so laufen sie wenigstens! Also sage ich: Daumen hoch!
Und bei Regen?
Auch da gibt es zahlreiche Möglichkeiten. Räumen Sie zum Beispiel mal das Wohnzimmer frei und bauen Sie einen kleinen Bewegungsparcours über Tisch und Bänke. Wer sich bewusst macht, dass er auf diese Weise in den aktiven Lebensstil der Sprösslinge investiert, nimmt auch die vorübergehende Verwüstung der Wohnung leichter in Kauf.
Sebastian Bahr
Ingo Froeboese (1957) ist Universitätsprofessor an der Sporthochschule Köln und Leiter des Instituts für Gesund durch Sport und Bewegung. Seit vielen Jahren beschäftigt er sich mit den Folgen des Bewegungsmangels bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen.
Der ehemalige Leichtathlet und Bobfahrer ist Autor zahlreicher Bücher zum Thema Gesundheit, u.a. des Ratgebers «Der kleine Sporticus» (2017). In dem Buch gibt Froboese Tipps, wie Kinder durch Bewegung und Ernährung fit werden. Froboese wohnt in Köln und hat zwei erwachsene Töchter.
Zählt so ein Parcours dann als «Bewegung» oder als «Sport»? Wo liegt der Unterschied?
Bewegung ist der Grundstein für den Sport. Bewegung, das ist laufen, springen, werfen. Rollen, klettern, toben. Im Gegensatz dazu hat Sport immer ein Ziel, also einen Ball über ein Netz schlagen, den Berg schnell oder geschickt hinunterfahren, einen Partner auf die Matte ringen.
Das heisst, Sport ist immer auch mit einem Wettkampf verbunden: Es geht um Punkte, Zeiten, Weiten – fast wie in der Schule. Erhöht Sport am Nachmittag nicht noch den Stress für die Kinder?
Im Gegenteil: Bewegung ist ausserdem ein ausgezeichnetes Mittel zur Minderung von Stress. Studien haben gezeigt, dass Kinder und Jugendliche, die im Verein Sport treiben, Schulstress besser aushalten können. Das Streitpotenzial geht insgesamt zurück, dadurch wird der Unterricht ruhiger und die Kinder sind ausgeglichener beim Lösen von Aufgaben.
In welchem Alter sollten sich Kinder denn auf eine bestimmte Sportart festlegen?
Erst ab 10 oder 11 Jahren. Davor sollte das Kind möglichst viele Sportarten ausprobieren dürfen und verschiedene Bewegungen kennenlernen. Dadurch werden Programme im Gehirn gespeichert, die bei ähnlichen Bewegungen immer wieder abgerufen werden. Vielseitigkeit bildet mehr athletische Fähigkeiten aus und macht flexibler. Ist etwa ein Kind schon einmal Rollschuh gelaufen, wird es mit grosser Wahrscheinlichkeit schneller Ski fahren lernen. Und der Umgang mit vielen verschiedenen Ballsportarten wird ein Leben lang helfen – egal ob beim Fussball, Tennis oder Golf.
Und mit welcher Sportart soll man am besten anfangen?
Turnen ist für mich die absolute Nummer eins für den Sporteinstieg. Kaum eine Sportart trainiert alle wichtigen motorischen Grundfertigkeiten – wie beispielsweise das Drehen um alle Körperachsen, Hangeln, Rollen oder Laufen – so gut wie das Turnen. Turnen ist eine perfekte Grundausbildung, auf die man später im Alltag und im Sport aufbauen kann. Leichtathletik ist auch ein sehr guter Einstiegssport, auch da wird ja viel gelaufen, gesprungen und geworfen. Und Schwimmen sollte sowieso jedes Kind lernen.
Es gibt Kinder, die wirklich nicht gerne Sport machen. Soll man solche Kinder trotzdem ins Fussballtraining schicken?
Es muss ja nicht immer Fussball sein! Klettern zum Beispiel ist ein wunderbarer Sport für Kinder. Draussen am Fels sowieso, aber auch in der Halle. Es schult in besonderem Masse die Kraft und Ausdauer – und stärkt das Vertrauen in sich und andere. Ich glaube, wenn Eltern das ganze Spektrum kindlicher Interessen ausnutzen, finden sie auch heraus, welches Talent in dem Kind steckt. Denn auch für den kleinen Dicken gibt es eine geeignete Sportart, man muss sie nur finden.
Welche Sportart könnte das denn sein?
Snowboarden, Skateboarden, Kajak fahren, Rudern... All das macht dem Jungen sicher mehr Spass, als zweimal pro Woche auf dem Fussballplatz zu stehen. Das Talent ihrer Kinder zu finden und zu fördern, halte ich für eine der wichtigsten Aufgaben von Eltern, auch im Hinblick auf ein langes, gesundes Leben.
Aber muss ein Kind überhaupt in einen Sportverein? Manche Kinder laufen zweimal am Tag einen Kilometer zur Schule und spielen nachmittags noch im Garten. Reicht das nicht an Bewegung?
Nein. Alltagsbewegung ist schön und gut, aber sie ersetzt nicht den Sport. Es ist für Kinder wichtig, auch mal an ihre körperlichen Grenzen zu gehen. Und das lernen sie heutzutage fast nur noch im Sportverein: Den eigenen Puls beim 50-m-Sprint mit 160 Schlägen zu spüren, ist ein Erlebnis, genau wie das Arbeiten der Muskulatur beim dritten Klimmzug.
Es ist auch gut, wenn Kinder und Jugendliche merken, dass man einen Handstand oder das Delphinschwimmen nicht an einem Tag lernt – und wie zufrieden es macht, wenn man es nach Monaten endlich kann.
Ganz zu schweigen von den sozialen und emotionalen Skills, die nur der Vereinssport vermittelt: Seine Rolle im Team finden, Fairplay zu spielen und mit Sieg und Niederlagen umzugehen. All das brauchen Kinder, um daran zu wachsen.
Gibt es auch No-Go-Sportarten für Kinder?
Bei Kindern sollte im Sport immer der Spass im Vordergrund stehen. Doch manche Sportarten wollen einfach keinen Spass machen. Vor allem nicht, wenn sie Kindern aufgezwungen werden. Ein klassisches Phänomen: Papa geht joggen, und weil es zeitlich passt, wird der Kleine direkt mit durch den Stadtwald gezerrt. Das beobachte ich ständig. Die ganz Kleinen dürfen dann noch mit dem Rad nebenherfahren. Sind sie etwas grösser, müssen sie wie Hunde nebenher hecheln. Das sollte nicht sein.
Gleiches gilt für Fahrradtouren. Sind diese moderat angesetzt mit ausreichend Pausen (zum Essen, Trinken, aber auch Spielen!), können sie Kindern Spass machen. Aber aus Erfahrung wissen wir: Wenn Kinder zu lange radeln oder gar spazieren sollen, wird ihnen langweilig. In der Folge quengeln sie und sind unzufrieden – und haben keine Lust mehr auf Sport. Gerade sehr sportliche Eltern laufen oft in diese Falle.
Manche Kinder gammeln am Wochenende einfach gerne im Pyjama herum. Ist es gesundheitlich problematisch, mal zwei Tage nicht aus dem Haus zu gehen?
Überhaupt nicht. Man kann auch gut und gerne mal für ein Wochenende fünf gerade sein lassen. Es sollte nur nicht jedes Wochenende vorkommen.