Krebs
«Unser kleines Wunder»
Von Manuela von Ah
Nach einer Brustkrebstherapie sinkt die Chance, schwanger zu werden. Zur Angst vor einem Rückfall kommt die Trauer über den unerfüllten Kinderwunsch. Bei Mia Britschgi klappte es trotzdem.
Nebel umhüllt die Hügelkuppen, zarte Schwaden von Mistgeruch ziehen vorbei, an ein kleines Holzhaus gelehnt steht ein Storch und verkündet mit gerecktem Hals die Geburt von Noah. Mia Britschgi öffnet lachend die Tür, den drei Monate alten Säugling eng an ihre Brust gedrückt. «Unser kleines Wunder» wird sie ihn später in der Küche nennen. Hinter dem idyllischen Anblick verbirgt sich eine bleischwere Zeit. Freunde und Familie wissen um Mias Geschichte, allen anderen will sie sich nicht zu erkennen geben, weshalb sie und ihre Kinder in Wirklichkeit andere Namen tragen.
Mia war 32 Jahre alt, als sie ihren älteren Sohn, Tim, damals 10 Monate alt, abstillt. Schon vor der Schwangerschaft tastete Mia beim Duschen sporadisch ihre Brüste ab. Nicht aus Angst, nicht, weil sie familiär vorbelastet wäre, sondern einfach, weil es Gynäkologinnen so empfehlen.
Emotionale Erschütterung
Den kleinen Knoten in der linken Brust hält Mia an diesem Morgen für einen Milchstau. Ihre Ärztin zunächst auch. Eigentlich will Mia mit ihr über eine zweite Schwangerschaft reden, denn sie träumt von einer grossen Familie. Dicht hintereinander möchte sie die Kinder haben, drei oder vier.
Die Ärztin beruhigt Mia – und schickt sie vorsichtshalber aber zur Abklärung in die Klinik Hirslanden in Zürich. Es ist kurz vor Weihnachten. «Bestimmt nichts Schlimmes», sagt sich Mia, «Brustkrebs betrifft alte Frauen. Oder solche, die rauchen, trinken, unvernünftig futtern.» Nicht aber junge, gebildete, gesundheitsbewusste Mütter wie sie.
Auf der radiologischen Abteilung des Spitals untersuchen die Ärzte Mias Brust mit Ultraschall, spritzen Kontrastmittel in ihre Venen und schieben sie in die laut hämmernde Magnetresonanzröhre. Durch die Gänge huschen weiss gekittelte Fachleute und schleusen Verdachtsfälle wie Mia routiniert durch den hochgetakteten Maschinenpark. Bei der Biopsie wird Mia mit einer kleinen Stanze ein Stück Gewebe aus dem Knoten entnommen, für die histologische Untersuchung.
Nach Weihnachten der schockierende Befund: Krebs. Einzelheiten der Diagnose dringen wie durch dichten Nebel zu Mia durch; als sie erfährt, dass eine Chemotherapie unumgänglich ist, erschrickt sie. Das Brustzentrum in Zürich ist so etwas wie ein Epizentrum für Belange rund um die Brust. In der Gemeinschaftspraxis arbeiten Gynäkologinnen und Onkologen, Radiologinnen, Chirurgen und Breast Care Nurses eng zusammen, untersuchen, erklären, beruhigen, stellen Diagnosen – und lösen bei den Frauen manchmal emotionale Erschütterungen aus.
Teelke Beck atmet tief durch. Ihre Agenda ist übervoll, Termine folgen Schlag auf Schlag und doch nimmt sie sich so viel Zeit, wie nötig ist, sodass heute zehn Minuten für ein Sandwich über Mittag reichen müssen. Jetzt sitzt die Fachärztin für Gynäkologie in ihrem Büro, an den Wänden hängen Bilder in orangen Farbtönen. Womöglich dämpft das warme Licht den Schock etwas, wenn Frauen hier von ihrer schweren Krankheit erfahren. Teelke Beck ist täglich konfrontiert mit der Lebensdramatik von Frauen mit Brustkrebs, 10 bis 15 Prozent von ihnen im gebärfähigen Alter, viele zwischen 30 und 40 Jahre alt.
«Wenn diese Frauen realisieren, dass die Folge einer Brustkrebstherapie auch bedeuten kann, keine Kinder mehr haben zu können, stürzt sie das in eine tiefe Lebenskrise.»
Die Natur gebärdet sich zynisch, wenn sie in der Brust gebärfähiger Frauen bösartige Zellen wuchern lässt. Die Urquelle menschlicher Nahrung wird zur Bedrohung. Es gibt zwar lebenserhaltende Therapien, diese senken aber die Chance für ein Kind. Der Grund ist ein einfacher: Brustkrebs bei jüngeren Frauen macht sehr oft eine Chemotherapie notwendig. Die sogenannten Zytostatika hemmen das Wachstum sich schnell teilender Zellen wie Krebs – leider auch jenes der Eizellen. Nicht nur vorübergehend, sondern je nach Alter nachhaltig.
Müde und kraftlos
Am letzten Tag des alten Jahres fährt Mia ins Brustzentrum zur ersten von 12 Chemos, die nun alle zwei oder drei Wochen erfolgen. Sie legt sich auf eine der medizinischen Liegen, um sie herum viele Frauen, die doppelt so alt sind wie sie. Aus dem Beutel am Infusionsständer tröpfelt eine giftorange Lösung in Mias Schlüsselbeinvene. So unbemerkt der Krebs sich in ihrem Körper eingenistet hat, so erbarmungslos ergreifen Mia nun die Nebenwirkungen der Chemo. Ob Schokolade, Salzgurken oder Sushi – nach ein paar Behandlungen schmecken alle Nahrungsmittel fad wie Karton. Die Übelkeit wird zum Alltagsbegleiter, genauso wie die Kraftlosigkeit. Selbst zwölf Stunden Schlaf reichen nicht mehr aus, sich zu erholen. Die nächsten acht Monate lässt Mia sich krankschreiben. Sie braucht das bisschen Energie, um wenigstens einige Stunden pro Tag mit ihrem Sohn zu verbringen.
Farbige Perücken
Da die Chemo auch die Zellen der Haarwurzeln zerstört, liegen Mias lange, dunklen Haare nach der zweiten Behandlung eines Morgens büschelweise auf dem Kissen. Doch statt in Selbstmitleid zu versinken, drückt Mia ihrem Mann die Haarschneidemaschine in die Hand. Ein Quäntchen Selbstbestimmung angesichts der Ohnmacht. Der anfänglichen Wut über die Kahlheit setzt Mia den Kauf von Perücken entgegen: blondgewelltes Langhaar, ein schwarzer Bob, ein Afrolook. Und rote Haare für mutige Tage. Meist aber trägt sie ein buntes Kopftuch, wenn sie Tim in die Krippe bringt oder sich zum Einkaufen schleppt.
Brustkrebs und Kinderwunsch
Buchtipp
Teelke Beck/Irene Brenneisen:
«Vom Anfangen und Weitermachen»
Frauen erzählen von ihrem Leben nach Brustkrebs.
Verlag rüffer & rub
Als Grippe, Brustfell- und Lungenentzündung sie in die Knie zwingen, ihr von der Therapie gebeutelter Körper die Viren nicht mehr zu vertreiben vermag, quartiert sich Mias Mutter bei ihr ein, telefoniert mit dem Notarzt, macht Wadenwickel, besorgt Fruchtsäfte und Brot. Mias Mann steht wie ein Fels in der Brandung, schmeisst den Haushalt, kümmert sich um Tim, macht Mia Mut. Irgendwann ist der Tiefpunkt überwunden und die Kranke gewinnt den ihr eigenen Optimismus zurück. Heulenden Freundinnen erklärt Mia, Mitleid nütze ihr nichts, sie wolle ihr Leben nicht vom Krebs beherrschen lassen. Und sie sieht immer den Grund vor Augen, durchzuhalten: ihr kleiner Sohn. Zur Bestrahlung, die nach der Chemo folgt, nimmt Mia ihn sechs Wochen lang täglich mit in die Radioonkologie. Tim darf jeweils auf dem Schoss der Röntgenassistentin sitzen und durch eine dicke Scheibe zugucken, wie der schwere Schwenkarm des Bestrahlers langsam um seine Mama kreist. Nach sieben Minuten ist sie wieder bei ihm.
Nachdem der bösartige Knoten in Mias Brust entfernt, Chemo- und Bestrahlungstherapie überstanden sind, muss die junge Mutter täglich eine kleine Pille schlucken. Mindestens fünf Jahre lang. Das Antihormon unterdrückt das körpereigene Östrogen, denn Brustkrebs ist oft östrogenabhängig. Die Kehrseite: Wird dem Körper dieses wichtige Fruchtbarkeitshormon entzogen, sinkt die Chance deutlich, schwanger zu werden. Mit 33 Jahren steckt Mia in der Menopause.
Frauen ab Mitte 30 mit Brustkrebs und Kinderwunsch läuft die Zeit davon. Eine doppelte Bestrafung. «Mitschuld», sagt Teelke Beck, trage auch der Umstand, dass Frauen heute das Mutterwerden hinauszögerten. Der Ärztin liegt deshalb viel daran, ihre jüngeren Brustkrebspatientinnen aktiv nach ihrer Familienplanung zu fragen und sie zu beraten. Frauen mit Partner haben die Möglichkeit, Embryonen zu konservieren, jene ohne Partner, Eizellen oder Eierstockgewebe einfrieren zu lassen.
Banges Warten
Oder sie richten ein Zeitfenster ein, in welchem sie die Einnahme des Antihormons unterbrechen. Medizinisch liegt ein solcher Unterbruch zwar im «luftleeren Raum», Studien dazu existieren praktisch keine. «Aber es gibt auch keine Hinweise, dass ein Rückfall während einer erneuten Schwangerschaft häufiger auftritt», sagt Teelke Beck. Auch wenn kein Onkologe einer Frau raten würde, nach zwei Jahren die Hormonbehandlung zu unterbrechen, wiegt für die Gynäkologin der Kinderwunsch betroffener Frauen viel: «Eine Frau sollte prinzipiell die Chance haben, trotz Brustkrebs noch ein Kind zu bekommen.» Die Verantwortung trägt schlussendlich jede selber.
Mia und ihr Mann entscheiden sich gegen das Konservieren von Embryonen oder das Einfrieren von Eizellen. So wie ihr erstes Kind soll auch das zweite gezeugt werden: natürlich. Nach zwei Jahren unterbricht Mia die Antihormonbehandlung. Nicht sorglos und nicht eigenmächtig, sondern nach Absprache mit ihrer Gynäkologin und dem Onkologen. «Es ist vielleicht absurd. Aber mein Kinderwunsch war so stark, ich wollte einfach unbedingt noch ein Kind.» Mia googelt nach neuen Studien, will abklären, welches Risiko sie eingeht und wissen, ob das Aussetzen der Hormonbehandlung und eine neue Schwangerschaft zum Rückfall führen könnte.
Dann beginnt das bange Warten. Würde ihre Mens wieder einsetzen? Ihr Körper noch einmal fruchtbar werden? Mia und ihr Mann geben sich ein Jahr. Sollte es in dieser Zeit nicht klappen, würde Tim ihr einziges Kind bleiben. Nach sechs Monaten hilft Mia mit Mönchspfefferkapseln nach. Die Heilpflanze drosselt das Prolaktin und erhöht die Wahrscheinlichkeit für eine Schwangerschaft. Kurz darauf setzt die Menstruation ein – und bleibt nach dem zweiten Zyklus wieder aus. Mia ist schwanger.
Die Teetassen sind längst geleert. Mia sitzt am Küchentisch, erzählt und schaukelt noch immer Noah in ihren Armen. Der Kleine spitzt im Schlaf den Mund, als suche er die Brust. Mia kann ihn stillen – nur mit der gesunden Brust zwar, diese aber gibt Milch her für zwei. Bald wird Mia abstillen und danach fortfahren mit der kleinen Pille, die sie erneut in die Menopause versetzen wird. Mit Hitzewallungen, Schweissperlen auf der Stirne, Gewichtszunahme.
Manchmal, sagt Mia, schlage eine Panikwelle über ihr zusammen, erfasse sie plötzlich die Angst, der Krebs könnte zurückkehren. Doch sie lerne allmählich, die Wogen als Teil ihres Lebens zu akzeptieren. Die Diagnose Brustkrebs bedeutet nicht mehr den sicheren Tod.
Die Perücken hat Mia auf dem Estrich verstaut. Vielleicht werden ihre Kinder, wenn sie grösser sind, damit spielen. Und damit den letzten Rest der bedrückenden Zeit vertreiben, die ihre Mama mit dem Kunsthaar verbindet.