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«Übermütter prägen die Gesellschaft»
Es war klar, dass das zu reden gab. Am vergangenen Sonntag erschien in der Sonntagszeitung ein Artikel unter dem Titel «Mit der Nachgeburt habt ihr euren Humor verloren». Eine Wutrede gegen die «immer perfekten, nimmermüden, sich aufopfernden Übermütter». Logisch, hagelte es Kritik – berechtigte? Ich hab mal nachgefragt.
Marah, was hat dich dazu bewegt, diesen Text zu schreiben?
Eigentlich war es eine Schnapsidee, in einer lustigen Runde entstanden. Meine Freundinnen und ich beklagten uns über den hohen Druck, den sich Mütter gegenseitig aufbürden - sei es am Arbeitsplatz, in der Schule, in der Badi. Der dabei angewandte Sarkasmus bescherte mir genügend Inputs für einen bissigen Text.
Was ist denn eine Übermutter?
DIE Übermutter ist wohl nur ein hypothetisches Konstrukt: ein Frankenstein aus schlechten Eigenschaften. Ich denke, jede Mutter, also auch ich, verhält sich ab und zu wie eine Übermutter. Die eine mehr, die andere weniger. Die eine reflektiert sich, die andere nicht. Eine Übermutter nimmt sich in meinen Augen zu ernst, ist mit sich zu streng und macht aus dem Muttersein einen Wettbewerb. Die Übermütter sind sicher in der Minderheit, ich kenne sehr viele lockere Mütter, aber trotzdem prägen sie die Gesellschaft. Einige werden auch so, um sich zu schützen oder anzupassen.
Ich denke da immer: «Sollen die doch.»
Klar. Aber viele junge Mütter sind verunsichert durch diese Stimmung und glauben, sie müssten perfekt sein. Ich bin überzeugt, der Stress und der hohe Druck führen zu mehr postnatalen Depressionen und später auch zu mehr psychischen Beschwerden. Hebammen könnten da sicher viel berichten. Mir geht es im Text vor allem darum: mehr Toleranz, mehr Lockerheit, mehr Freiheit, weniger Druck.
Das hast du aber selbst auf eine sehr undiplomatische Art kommuniziert.
Logisch, das war auch polemisch. Mir geht es um die Stossrichtung. Ich beobachte und analysiere gerne, habe aber nicht das Gefühl, ich mache es besser als andere.
Wo trifft man Übermütter?
Ich treffe nicht mehr viele davon, da ich mir Orte aussuche, wo sie nicht so präsent sind. Und mich mit Frauen umgebe, die kein Theater spielen müssen und keinen Konkurrenzkampf mit mir haben. Negative Erfahrungen machte ich vor allem auf der Mütterberatung, in der Rückbildung, an der Schule, am Arbeitsplatz oder in Badis und auf Spielplätzen.
Wann bist du eine Übermutter?
Öfters. Ich bin zum Beispiel ein Kontrollfreak, wenn ich Gäste habe. Alles muss perfekt sein, obwohl das niemand erwartet. Ich kann auch schlecht akzeptieren, dass mein Sohn gar nichts für die Schule macht oder wenn er sich prügelt. Ich kann kaum abschalten, wenn die Kinder über Nacht weg sind und habe viele Ängste. Auch ist mir mein Äusseres oft zu wichtig und ich verlange viel von mir im Job.
Das sind doch aber eigentlich sehr positive Aspekte.
Richtig, aber die Summe machts: Wir sollten nicht den Anspruch haben, überall das Optimum herauszuholen.
Wie waren die Reaktionen auf deinen Artikel?
Sehr unterschiedlich. Ich würde behaupten zu zirka 80 Prozent positiv. Ich habe viele persönliche Nachrichten erhalten. Frauen, die sich bedankten für die Ehrlichkeit.
Der Mamablog hat sich empört und eine Replik geschrieben. Tenor: Es gibt sie doch, die Toleranz unter Müttern.
Das finde ich berechtigt. Wenn man will, kann man mich missverstehen, frustriert finden oder sexistisch. Nichts davon stimmt. Ich habe mich lediglich über etwas ausgelassen, das ich jahrelang beobachten konnte. Nicht nur, aber immer wieder. Und natürlich habe ich das auf überspitze Art gemacht, über einen Text à la «es gibt solche, aber auch andere» spricht man ja nicht.
Einige Kritiker äusserten gar Mitleid mit dir.
Ja, danke dafür. Ist aber nicht nötig, ich bin ein sehr ausgeglichener, zufriedener Mensch. Die negativen Kommentare sind eine gute Übung für mich. Ich finde, wir Frauen wollen viel zu oft gefallen.
Du forderst Toleranz, pinkelst aber den Übermüttern ans Bein – kein Widerspruch?
Nein. Ich toleriere Übermütter, bin ja wie gesagt selbst manchmal eine. Ich würde mir nur wünschen, wir wären manchmal alle ein wenig lockerer und nachsichtiger miteinander.
Gibt es auch Überväter? Falls ja, wie ticken sie?
Ja klar, aber weniger. Vermutlich auch, weil die Erziehung immer noch vornehmlich Frauensache ist.
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Reto Hunziker ist 1981 im Aargau geboren, aber das muss noch nichts heissen. Er hat Publizistik, Filmwissenschaft und Philosophie studiert und auch das muss noch nichts heissen. Er arbeitet als freier Journalist und als Erwachsenenbildner und versucht daneben, dem ganz normalen Wahnsinn in einer Patchwork-Familie (Frau, Tochter und Stiefsohn) mit Leichtigkeit und gesundem Menschenverstand zu begegnen – das will was heissen. Alle Blog-Beiträge von Reto Hunziker finden Sie hier.