Engelskinder
Trauern unerwünscht
Von Nicole Gutschalk
Jede dritte Frau in der Schweiz verliert in den ersten Schwangerschaftswochen ein Kind. Gesprochen wird darüber kaum. Werdende Mütter, die plötzlich keine mehr sind, haben in unserer Gesellschaft keinen Platz zu trauern. Warum eigentlich?
Psychologische Unterstützung
Bei einer starken Traueraktion und übermässiger Sorge in einer nächsten Schwangerschaft sollte man psychologische Hilfe bei einer Fachperson suchen. In diesem Fall wenden sich die Betroffenen an den Haus- oder Frauenarzt, um sich über Möglichkeiten zu informieren.
Medizinische Abklärung
Nach drei aufeinanderfolgende Aborten vor der zwanzigsten Schwangerschaftswoche wird dazu geraten, nach einer Ursache zu suchen. Man spricht dann von einem habituellen Abort. Zur Abklärung der Ursachen gehört: Eine Untersuchung der Gebärmutter, das Finden von genetischen Auffälligkeiten sowohl beim Mann als auch bei der Frau, eine Hormonanalyse, eine Überprüfung der Blutgerinnung und die Suche nach speziellen Antikörpern. Enttäuschend ist allerdings, dass nur bei ca. 50% aller Paare ein Grund für wiederholte Fehlgeburten gefunden werden. und selbst dann ist nicht jede Ursache behandelbar.
Anlaufstelle im Netz
Meine Freundin Nina und ich standen gerade in der Kinderschuhabteilung eines grossen Warenhauses. Ich steuerte sofort auf ein ledernes, geschnürtes Paar zu – das hübscheste im Sortiment, wie ich fand. Nina hingegen hielt ein abscheuliches Klettmonster in der Hand und als sie meinen fragenden Blick bemerkte, sagte sie entschuldigend: «Weisst du, mein Bauch wird im Winter so dick sein, dass ich kaum in der Lage sein werde, meine eigenen Schuhe zu binden, geschweige denn die meines Sohnes – ich bin schwanger!» Ich umarmte und beglückwünschte sie, wie es sich für eine gute Freundin gehört. Dann eilte ich zur Toilette und heulte. Es waren keine Tränen der Rührung. Es waren viel mehr die schrecklichen Tränen der Missgunst, die da in der Damentoilette eines Zürcher Kaufhauses aus meinen Augen strömten. Missgunst; ein Charakterzug, den ich tief verabscheue, der aber wie eine eklige Klebmasse an mir haftete. Seit über einem Jahr schon. Seit jenem Montag im März, als ich von der Bäckerei mit meinem Sohn nach Hause lief, er ein Weggli kauend, ich zwischen den Beinen in Strömen blutend.
Sinnvolle Regulation der Natur
Eine Fehlgeburt, im Fachjargon Spontanabort genannt, ist der Verlust eines Babys in den ersten 24 Wochen der Schwangerschaft. Genaue Zahlen über die Häufigkeiten solcher Aborte gibt es nicht. In der Schweiz, so schätzt man, kommt auf jede zehnte Geburt ein Spontanabort. Bei durchschnittlich 78 000 Geburten pro Jahr sind das rund 7800 Spontanaborte. 7800 Frauen, die wie ich ein Kind verlieren. Ich befand mich in guter Gesellschaft. Erklärt wird eine Fehlgeburt gerne mit einer «sinnvollen Regulation der Natur». Der Körper erkennt ein Baby mit einer genetischen Störung und selektiert. Eine gute Sache also, wie mir mein Gynäkologe versicherte. Warum nur tröstete mich das nicht?
Vielleicht ist das schlechte Gewissen schuld. Vielleicht hatte ich mich zu wenig über die Schwangerschaft gefreut. Mein Sohn war damals gerade mal ein Jahr alt. Die Nächte waren eben etwas erträglicher geworden, sodass ich nicht mehr mit Augenringen so gross wie Kängurubeutel im Büro erschien. Ich ging ab und zu wieder in meine Lieblingsbar, um Freunde zu treffen oder hatte hin und wieder ein freies Wochenende mit meinem Mann, während die Grosseltern auf den Kleinen aufpassten. Dann tanzten wir, bis uns die Füsse schmerzten und ich barfuss, aber überglücklich, nach Hause lief. Ein Stück meines alten, kinderlosen Lebens war zurückgekehrt. Wie sehr ich es doch vermisst hatte.
Wie sehr ich doch erschrak, als dann eines Morgens auf dem Plastikfenster des Schwangerschafstestes zwei Balken erschienen: Geschundene Nippel, Quarkwickel auf entzündeten Brüsten, ein schreiendes Baby, das mich aus dem Tiefschlaf holt – Bild um Bild zog an mir vorüber. Ich war noch nicht bereit für ein zweites Kind. Dachte ich. Wie bitter sollte ich diesen Gedanken bereuen, als ich an jenem Montag im März plötzlich und wie aus heiterem Himmel auf dem Gynäkologiestuhl der Uniklinik lag. Es war die elfte Schwangerschaftswoche. Mein Sohn sass brav in seinem Buggy, während der untersuchende Arzt vergeblich versuchte, die Herztöne des Babys zu ermitteln. Doch da war nur Stille in meinem Bauch. Zwei Stunden später lag ich bereits vollnarkotisiert im OP. Ausschabung. Was für ein Wort. Die Reste meines Embryos und des Mutterkuchens wurden aus mir herausgekratzt und abgesaugt. Es klingt, wie es war. Viel schlimmer jedoch war die Sprachlosigkeit, die darauf folgte. Jeder, der in unserer Gesellschaft jemanden verliert, hat das Recht zu trauern. Und wird auch getröstet. Wenn man hingegen in den ersten Wochen einer Schwangerschaft ein Kind verliert, bleibt man allein und ist zum Schweigen verdammt. Im Büro schweigt man, weil der Chef noch gar nicht wusste, dass man schwanger ist. Unter Freunden schweigt man, weil es noch zu früh war, um die «anderen Umstände» breit zu schlagen. Und so blieb ich allein mit meiner Trauer.
Und meinen Tränen. Jeden Monat, wenn die Periode kam. Auf der Bürotoilette, im Restaurant und zu Hause. Tränen der Verbitterung und Wut. Bis sie endlich wieder erschienen, die zwei Balken im Plastikfenster. Nun würde ich es anders machen. Zu meinem Mann sagte ich, wir müssen das Kind «willkommen» heissen – klingt esoterisch, hat sich aber richtig angefühlt. Ab der neunten Schwangerschaftswoche klebten Post-it-Zettel an unserem Kühlschrank: Liv, Marlon, Selma, Lasse und Irma standen darauf. Ich erzählte meinen Freundinnen und meiner Mutter, dass ich im Juni ein Kind erwarte. Ein Sommerkind. Im Büro trug ich weite Kleider, denn mein Bauch wölbte sich bereits. Dieses Mal war es an einem Sonntag. Zwölfte Schwangerschaftswoche. Der FC Zürich spielte gegen die Erzfeinde aus Basel. Ich sass beim koffeinfreien Kaffee in einem angrenzenden Park des Stadions mit einer Freundin, mein Sohn spielte im Sandkasten. Das warme Gefühl in meiner Unterhose hätte auch Schweiss sein können. Denn gewöhnlich trage ich keine Strumpfhosen unter Jeans, aber mein Bauch sollte in jenen Tagen geschützt sein. Es war kein Schweiss. Mein Mann am Telefon war umringt von brüllenden FCZ-Fans. Und – als wären tausend Kilometer zwischen uns – fragte er: «Bist du sicher?» Und: «Kann ich die zweite Halbzeit noch zu Ende schauen?» – Ich sagte zwei Mal «Nein» bevor ich auflegte.
Montag: Ausschabung; Dienstag: Sitzung
Am Montag war die Ausschabung. Am Dienstag ging ich zur Arbeit. Ich trug einen weiten Pulli, mein Bauch war immer noch gewölbt. Die eingeweihten Freundinnen sagten: «Sei froh, dass du schon ein Kind hast, andere üben Jahre und es klappt nicht.» Es hätte mich trösten sollen, ich aber schämte mich nur. Es war die Art von Scham, die mich früher überkommen hatte, wenn ich appetitlos vor einem vollen Teller sass und meine Mutter jeweils sagte: «Die armen Kinder in Afrika wären froh, sie hätten überhaupt etwas zu essen.» Die Trauer war zwar da, durfte aber nicht sein. Schliesslich hatte ich ja kein Kind verloren, das ich bereits in den Armen hatte, das bereits einen Namen trug. Zudem konnte ich mich auch in Sachen Fruchtbarkeit nicht beklagen – ich war in den vergangenen vier Jahren immerhin drei Mal schwanger. Es gab für mich eigentlich keinen Grund, unglücklich zu sein. Also schämte ich mich weiterhin und trauerte allein in meinen eigenen vier Wänden. Weitere tränentiefe Monate folgten. Tränen der Missgunst, wenn sich selig lächelnde Dickbäuche im Tram, in der Badi oder auf dem Spielplatz an mir vorbei schoben. Tränen der Aggression, wenn wieder einmal jemand fragte, ob wir denn kein zweites Kind planen würden, und Tränen der Resignation, weil die Tamponpackung immer noch in Gebrauch war.
Das dritte Mal hätte ich gar nicht mitkriegen sollen. Ich hätte zu den 75% der Frauen gehören sollen, die von einer Schwangerschaft nichts wussten, weil sich das befruchtete Ei bereits früh ablöste. Ich kriegte es aber trotzdem mit. Nicht nur weil meine Brüste sich bereits wieder zu Ballonen aufgeblasen hatten, sondern auch weil ich mittlerweile über einen beeindruckenden Vorrat an Schwangerschaftstests verfügt hatte. Darunter waren natürlich auch welche, die eine Schwangerschaft bereits vor dem Ausbleiben der Periode erkennen. Zugegeben, ich war zwischendurch besessen von der Idee, schwanger zu werden. Und ja, ich wurde zur hysterischen Kommandantin, die ihren Mann zur Eisprungzeit zum Sex befahl. So sah es aus. Beim dritten Mal lösten sich die Rückstände des Embryos von alleine aus meinem Körper. Die Curettage – wie die Ausschabung im Medizinjargon genannt wird – blieb mir diesmal erspart. Immerhin.
Ich werde Mutter eines Kindes bleiben, sagt ich mir, verbannte die Schwangerschaftstests aus meinem Badezimmershcrank und schlief mit meinem Mann auch wieder zwei Tage vor der Periode. Auch stand nach jedem Glas Prosecco, das ich über den Durst getrunken hatte, der dunkle Schatten des schlechten Gewissens nicht mehr mit mir. Ich hatte resigniert. War allerdings ziemlich entspannt dabei. Vielleicht führte diese Entspannung ja dazu, dass ich zum fünften Mal schwanger wurde. Dieses Mal zwang ich mich dazu, mich erst in der zwanzigsten Woche darüber zu freuen – als ich die ersten Bewegungen meines Kindes spürte. Es wurde ein Mädchen, geboren an einem Donnerstagnachmittag im September. Liv, ein Spätsommerkind.
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