Stillprobleme
Stiller Druck
Marlene Bass* ist keine Dogmatikerin, aber eines weiss sie seit der Geburt ihres Kindes ganz gewiss: Nie wieder in ihrem Leben will sie eine Stillberaterin sehen. «Wirklich nie wieder!», sagt sie und schiebt energisch nach: «Falls ich je ein zweites Kind bekomme, werde ich keinen Fuss in eine Wochenbettabteilung setzen, bevor das dem Personal nicht klipp und klar ist.»
Marlenes Antipathie kommt nicht von ungefähr. Vor sieben Monaten hat sie im Kantonsspital Aarau einen Sohn geboren. Die Geburt ging schnell, fünf Stunden nur. Wegen eines Vaginalrisses verlor die 29-jährige jedoch so viel Blut, dass sie in den folgenden Tagen weder aufstehen noch ihr Kind versorgen konnte. Kreidebleich lag sie im Bett, kämpfte mit einen Hämoglobinwert von 6, also von weniger als der Hälfte des üblichen Werts, und bekam Eiseninfusionen. «Es ging mir richtig schlecht», erinnert sie sich. Dass die Stillberaterin das nicht gemerkt oder schlicht übergangen hat, versteht Marlene bis heute nicht. «Jeden Tag Punkt halb zwei Uhr stand sie an meinem Bett, legte mir das Baby an die Brust und zwang mich, es zu stillen.»
Eine schreckliche Erinnerung für die Mutter, die ihr Kind vor Schwäche kaum im Arm halten konnte. Doppelt schlimm, weil das Baby nicht von der Brust trank, warum auch immer. Die Stillberaterin tröstete: «Das braucht halt Zeit, Geduld und Übung» – und brachte am nächsten Tag eine Stillpumpe mit. «Wie es mir ging, nahm sie nicht wahr, dass der Kleine ständig schrie vor Hunger, hörte sie nicht», klagt Marlene Bass an, «ich verstehe noch heute nicht, wieso sie mich so gequält hat.» Vier Tage nach der Geburt sagte die junge Mutter zum Pflegepersonal: «Entweder bekommt das Kind jetzt sofort einen Schoppen oder ich schicke meinen Mann in die Apotheke, um Pulvermilch zu kaufen.» Das wirkte. «In dieser Nacht schliefen wir das erste Mal beide gut. Der Kleine lag ruhig bei mir im Bett, brauchte keine Zuckerlösung und weinte endlich nicht mehr. Das tat mir wahnsinnig gut.»
Marlene Bass ist nicht die einzige, die sich gegen den Stilldruck wehrt, der auf den Müttern lastet. Frauen, die ihrem Kind den sogenannten «Goldstandard», die Muttermilch, nicht bieten können oder wollen, erhalten mediale Unterstützung. Presseartikel in England und Deutschland thematisieren die «Stille Macht» (Zeit-Magazin vom 22.10.2010). Auch die «Schweizer Familie» berichtete kürzlich über den «falschen Ehrgeiz» von denjenigen, die glaubten, dass nur gestillte Kinder optimal ins Leben starten. Denn der Powercocktail Muttermilch, so der Tenor in Medizin und Ratgeberliteratur, schützt nicht nur vor Krankheiten, sondern auch vor Übergewicht, Diabetes und Allergien. Und mit der Muttermilch saugen die Kinder gleichsam konzentrierte Intelligenz, Nestwärme und Mutterliebe auf. Wissenschaftlich wird dies zwar zum Teil kontrovers diskutiert. Geglaubt wird es trotzdem gern.
Zu den Handlangerinnen dieser heute geltenden Still-Doktrin zählen die Stillberaterinnen. Sie gehören mittlerweile zum Basisangebot jeder Wochenbettabteilung und zu einer Berufsgattung, die unter Beschuss geraten ist. Dass sie ihre Aufgabe manchmal mit etwas zu grossem missionarischem Eifer nachgehen, stösst manchen Frauen zunehmend sauer auf. Claudia Fuhrer Hauser, Präsidentin des Schweizerischen Berufsverbands der Stillberaterinnen, widerspricht dem nicht, nimmt ihren Berufsstand jedoch in Schutz: «Die Tage und Wochen nach der Geburt sind eine sensible und heikle Zeit, die Frauen sind sehr verletzlich.» Es brauche enorm viel Fingerspitzengefühl, den richtigen Ton zu finden, dies gelinge auch ihr selbst nicht immer. Fuhrer Hauser findet es richtig, dass die Frauen auf ihre Anliegen aufmerksam machten. «Dem Stillen dient die öffentliche Stillkritik allerdings nicht.»
Aber vielleicht hilft sie den Frauen, die ein Ventil brauchen für den Druck, der sie einengt? «Mut und Aggression sind gesunde Reaktionen, wenn man sich angegriffen fühlt», sagt die Psychologin Maria Mögel, «sie helfen, das Selbstbewusstsein wieder herzustellen.» Marlene Bass wird von ihrem Mann mittlerweile die «Alice Schwarzer unter den Nicht-Stillerinnen» genannt. Einige Zeit nach ihrer traumatischen Erfahrung hat sie einen nichts beschönigenden Brief an die Klinik geschickt. Die Klinik hat sich in einem Antwortbrief entschuldigt und versichert, mit der betreffenden Stillberaterin zu sprechen. Vehement hat Marlene auch auf das Inserat der Stillkampagne vom vergangenen Herbst reagiert, auf welchem süsse Babys in knallbunten Bodys skandierten: «Bitte stillt uns!» In einem Leserbrief an wir eltern schrieb sie: «Als ich dieses Plakat gesehen habe, hat es mir fast das Herz zerrissen. Wisst ihr eigentlich, was solche Inserate bei Müttern auslösen, die so gerne stillen möchten, aber nicht können?» Bekannte aus dem Dorf, die den Leserbrief sahen, hätten ihre Meinung «etwas speziell» gefunden, weswegen Marlene in diesem Artikel nicht mit ihrem richtigen Namen erscheinen möchte. Erschrocken ist Nicole Zindel, verantwortlich für den Text der Stillkampagne: «Eine solche Reaktion hätte ich nicht erwartet, kann es aber mittlerweile nachvollziehen. Wir wollten sicher niemand verletzen und es tut uns leid, wenn wir es getan haben.»
Auch Schoppen-Kinder lernen laufen
Die Zeichen mehren sich, dass ein Umdenken stattfindet. All die Artikel, in denen gegen den gesellschaftlichen Stilldruck angeschrieben wird, all die Frauen, die sich dagegen wehren, dass man ihnen vorschreiben will, wie sie ihre Säuglinge zu ernähren haben, zeigen Wirkung. Stillen ist gesund, keine Frage. Ist superpraktisch. Und erst noch billig. Doch auch Nicht-Stillen wird heute langsam wieder toleriert. «Wer abstillen will, soll es dürfen», sagt die höchste Schweizer Stillberaterin, Claudia Fuhrer Hauser. Hanni Bürki, Hausgeburtshebamme mit 30-jähriger Erfahrung, legt mehr Wert als auch schon darauf, die Frauen zu beruhigen, wenn es mit dem Stillen nicht klappt: «Die Kinder werden auch mit Schoppenmilch gesund und gross.» Im Spital Zollikerberg hat man sich gar bewusst entschieden, eine «stillfreundliche Klinik» ohne WHO/Unicef-Auszeichnung zu sein. «Wir informieren, beraten und unterstützen bei Stillfragen, wollen aber keinen Druck ausüben», sagt Brigitte Mercado, Leiterin der Frauenklinik, «uns ist wichtig, dass jede Frau selber entscheiden kann, was sie will.» Und das geht offenbar besser, wenn man nicht gelobt, die 10 Schritte der WHO/Unicef einzuhalten, sich auch mal über das Schnuller-Tabu hinwegsetzt oder einer völlig erschöpften Mutter das Neugeborene in der Nacht ein paar Stunden abnimmt, damit diese sich erholen kann. Sogar La Leche League, die sich zurecht damit brüsten kann, der Muttermilch zu breiter Akzeptanz verholfen zu haben, publizierte auf ihrer Website kürzlich einen Artikel, der den Stilldruck zum Thema hatte.
«Folgerichtig», findet Psychologin Mögel diese Entwicklung. Generationen lang sei das Stillen entwertet und verhindert worden, beispielsweise durch rigide Fütterzeiten. In den 70er-Jahren dann die Gegenbewegung, die die Frauen ermunterte: Traut eurem Körper, euren Instinkten und eurer Fähigkeit, eure Kinder zu ernähren. Das Stillen wurde gefördert, erforscht und etabliert. Gleichzeitig entstand der Druck, nur mit Stillen das richtige zu tun. «Das Pendel schlug in den letzten Jahren etwas extrem Richtung ‹nur Stillen› aus. Jetzt kommt es langsam wieder zurück», so Mögel. Und das sei gut so, denn Druck auf die frühe Mutter-Kind-Beziehung löse Angst aus, die niemandem nütze, am wenigsten den Kindern.
Stillpolizei aus Müttern
94 Prozent der Frauen stillen ihre Kinder, wenn sie aus dem Wochenbett nach Hause entlassen werden. Wie gut es ihnen dabei geht, darüber gibt es keine Erhebung. Man weiss jedoch, dass die Stillrate in den folgenden Wochen massiv abnimmt. Schmerzende Brustwarzen, zu wenig Milch, Brustentzündungen, Stress oder die Rückkehr an den Arbeitsplatz – die Gründe für den Griff zur Flasche sind vielfältig. Sechs Monate nach der Geburt stillen nur noch 14 Prozent der Mütter ihre Kinder. Von denen, die nicht mehr stillen, leidet ein grosser Teil an Schuldgefühlen. Bei einer Befragung von 500 nicht-stillenden Müttern an der Universität Kent hat der britische Soziologe Frank Furedi 2005 festgestellt, dass sich jede Dritte als Versagerin fühlt und Schuldgefühle äussert. Selbst wer sich im Moment des Abstillens sicher war, das Richtige zu tun wie Nina Salvisberg, die wegen unerträglichen Schmerzen am dritten Tag die Abstillpille nahm, fragt sich hinterher: «Habe ich zu schnell aufgegeben? Hätte ich mehr kämpfen sollen?» Und Marlene Bass erinnert sich an die geringschätzigen Blicke der anderen Frauen auf dem Spielplatz, wenn sie den Schoppen aus der Tasche nahm. Wie umgehen damit? Wohin mit den Selbstvorwürfen?
«Mit einem Baby werden auch Schuldgefühle geboren», sagt Maria Mögel pragmatisch. Die Besorgnis um das Gedeihen und Wohlergehen des Kindes gehört zur Elternschaft. Zu viele Schuldgefühle belasten dagegen die Beziehung. Dass alles richtig macht, wer das Kind stillt, stellt Mögel dezidiert in Frage. Stillen vereinigt wichtige Aspekte der Mutter-Kind-Beziehung: das Kind zu nähren, zu halten, ihm Schutz zu bieten und eine Beziehung zu ihm aufzubauen. Genau das könne jedoch auch mit Schoppenernährung gelingen. «Nicht ob das Kind Muttermilch oder Schoppen bekommt, sondern ob es Mutter und Kind gut miteinander geht, ist entscheidend», findet die Psychologin.
Fragen, Ängste und Unsicherheiten gehören zum Elternsein wie vereiste Strassen zum Winter. Mögel möchte den Eltern Mut machen, ihre jeweils eigene Version von Muttersein, Vatersein zu kreieren. «Dazu ist die Resonanz von anderen Erwachsenen nötig. Jede Familie braucht einen Fanclub, bestehend aus Familie, Freunden oder Fachpersonen, mit dem sie sich austauschen kann, der hinter ihr steht.»
**Name geändert*
Wer nicht stillen kann und wieso
Etwa fünf Prozent der Frauen können laut Stillberaterin Claudia Fuhrer Hauser nicht stillen, auch wenn sie gerne möchten. Gründe sind:
- Keine oder nicht genügend Milchdrüsen
- Vorgängige operative Brustreduktion
- Sehr empfindlicher Haut, Hohlwarzen und unerträgliche Schmerzen
- Psyche und das Umfeld spielen eine Rolle
Nicht-Still-Tipps
Weiss eine Frau schon vor der Geburt, dass sie nicht stillen will, soll sie dies im Spital offen deklarieren. Fuhrer Hauser: «Es braucht dann keine Stillberaterin, die sie vom Gegenteil zu überzeugen versucht.»
Um ihrem Willen Nachdruck zu verleihen, kann sie den Schoppen und Säuglingsmilch selbst ins Spital mitbringen. Gleich nach der Geburt erhält sie zweimal eine Abstilltablette, die die Milchproduktion unterdrückt. Wer erst nach nicht geglückten Stillversuchen ans Abstillen denkt, kann ebenfalls eine Abstilltablette verlangen.