Casting
Star für 50 Sekunden
Halb vier an einem Donnerstagnachmittag Anfang Oktober: Ein Dutzend Mädchen fiebert in der Lobby des Zürcher Theaters 11 dem Casting für einen 50-Sekunden-Song im Musical «Evita» entgegen. Eigentlich fängt das grosse Aussortieren erst um vier Uhr statt, doch wer weiss – ein bisschen früher da sein kann nicht schaden. Schliesslich geht es um nichts Geringeres als den möglichen Beginn einer Gesangskarriere. Und die einmalige Chance, für eine Minute mit Profis auf der Bühne zu stehen.
In den USA gibt es für Mütter, die ihre Kinder ins Rampenlicht drängen, längst einen festen Begriff: «Showbiz Moms». Keine Gelegenheit lassen diese aus, um den Nachwuchs auf die Bühne zu zerren, sie sind bei jedem Kindermodecasting dabei und stehen für jeden Bewerbungsmarathon für eine Fernsehwerbung Schlange. Vielleicht weil sie glauben, selbst eine Karriere als Sängerin oder Schauspielerin verpasst zu haben. Sicher ist: Castingshows boomen – in Deutschland sucht Heidi Klum seit Jahren das nächste Topmodel, England castet vor Millionenzuschauer Ausnahmekönner, und im kommenden Januar geht man auch in der Schweiz mit der TV-Kamera auf Talentsuche. Färbt die Castingmania auf die Kinder ab?
Über 50 Talente, besser gesagt deren Eltern, hatten sich auf den Presseaufruf gemeldet. Gesucht wurden «Mädchen zwischen 7 und 11 Jahren, nicht grösser als 1,40 Meter, mit gesanglichem und schauspielerischem Talent, die in der Show live das Lied ‹Santa Evita› singen». 25 davon sind eingeladen worden. Zwei Siebenjährige sind dabei und eine Zwölfjährige. Die zuständige Schweizer Promotionsagentur hat rund zwei Stunden eingeplant, um die Richtigen zu finden.
Starke Nerven und eine Portion Coolness
Im zweiten Akt des Musicals sollen sie auftreten, die jungen Sängerinnen. Ganz allein werden sie auf der Bühne stehen, die zur Kirche umfunktioniert wird, und das Gebet singen. Der Soloauftritt wird knapp 50 Sekunden dauern – ganz schön viel Aufregung für einen ziemlich kurzen Einsatz. Und ganz schön viele Anforderungen an die junge Interpretin. Das Lied, so erzählt die zuständige Produzentin später, sei ziemlich anspruchsvoll. Abgesehen von einer guten Stimme und genügend Coolness, um in einem riesigen Theatersaal mit Tausenden von Zuschauern aufzutreten, müssen die Mädchen auch eine robuste Natur mitbringen. Neben einer Generalprobe vor Beginn des Gastspiels werden die drei bis vier Finalistinnen insgesamt 16 Aufführungen bestreiten, die vom 9. bis 21. November im Zürcher Theater 11 stattfinden.
Die Mütter, die hier mit ihren Töchtern auf den grossen Auftritt warten, wissen über die recht stressigen Seiten des Ruhms Bescheid. Schliesslich waren auf der offiziellen Website des erfolgreichen Andrew Lloyd Webber-Musicals die Bewerbungsbedingungen bis ins Detail aufgeführt. Vorweg mussten sich die Eltern per E-Mail bei der Produktionsfirma melden – mit einem kurzen Lebenslauf der Tochter, einer ärztlichen Bescheinigung, dass es gesundheitlich unbedenklich wäre, sie an einigen Abendaufführungen arbeiten zu lassen, sowie einer Einverständniserklärung der zuständigen Schulleitung. Denn die auserwählten Kindersängerinnen werden an ihren Auftrittstagen die Schule wohl etwas früher verlassen müssen. Und die Hausaufgaben werden darunter sicher auch mal leiden.
Mütter fiebern mit
Während sich die Bewerberinnen einschreiben und ihre Dokumente abgeben, erhalten die anwesenden Journalisten eine Liste mit Namen, Alter und Wohnort der angemeldeten Mädchen. Aus der ganzen Schweiz sind sie angereist, aus Böttighofen, Buchrain oder Wil bei Bern. Nun werden die Kinder und Mütter in den grossen Saal gebeten, in dem die beiden Jurymitglieder und eine Pianistin warten. Jurorin Kristina Keienburg, die für die deutsche Aufführung zuständig ist, begrüsst die Mädchen herzlich. Und der zweite Juror, der Engländer David Steadman – seit über zehn Jahren offizieller «Musical Director» der Evita-Produktion –, hilft äusserst sympathisch über die sprachliche Barriere hinweg: «Don’t worry» – kein Grund, nervös zu sein. Nach einem kurzen Einsingen und spielerischen Aufwärmübungen mit Pianistin Chin werden die Kandidatinnen wieder hinaus begleitet, um im Flur auf ihren Auftritt zu warten. Uhren-Check: 16:45. Es geht los!
Rund eine Stunde dauert es, bis alle Mädchen ihr Talent unter Beweis gestellt haben. Manche brauchen etwas Aufmunterung von den beiden Juroren David und Kristina, andere legen gleich los mit ihrem Lied. Die Nervosität ist bei fast allen zu spüren – einer zehnjährigen Kandidatin zittert der Rocksaum während dem Vorsingen so stark, dass man befürchtet, sie würde noch ohnmächtig. Doch singen tun sie alle.
David Steadman erzählt uns später von Kindern, die im Casting vor lauter Nervosität keinen Ton herausbringen. «Das tut einem immer wahnsinnig leid. Wenn wir danach mit den Eltern reden, handelt es sich interessanterweise fast ausnahmslos um Kinder, die das Lied wirklich in- und auswendig gelernt haben, sich aber durch die Pianistin, die den Song ja live mit ihnen spielt, aus dem Konzept bringen lassen. Dann geraten sie in Panik, und das ist immer unheimlich schwierig für uns in der Jury, denn wir sind allen Kindern wohlgesinnt und finden es natürlich wichtig, dass sie sich gut fühlen dabei.»
Allen die Show stehlen
Die Mädchen spüren, trotz Aufregung, dass es die beiden nett lächelnden Erwachsenen, die vor ihnen sitzen, gut mit ihnen meinen: Céline, 9, singt erst beim zweiten Anlauf laut genug. Dann aber umso schöner. Auch Andrea, 10, schafft es, beim zweiten Mal gleichzeitig zu singen und zu lächeln. Die meisten Mädchen kommen an der Hand von Mama hinein, einige aber schaffen es auch alleine. So wie die zwölfjährige Noemie, die im Kinderchor des Zürcher Opernhauses singt und sich das Vorsingen offensichtlich gewohnt ist. Ob sie aber nicht zu gross ist für die Rolle?
Die Stunde ist um – das Casting vorbei. Schnell noch singt die «spontan» angemeldete Katharina ihre letzte Strophe, die sie am Abend davor mithilfe von YouTube-Mitschnitten eingeübt hat. Die Jury ist sichtlich zufrieden, die Mütter, die draussen ihre Mädchen wieder in Empfang nehmen, erleichtert.
«Wenn Sie das Stück live sehen», meint David Steadman, «werden Sie verstehen, warum wir das machen. Dieser verletzliche Charme und diese Einfachheit, die das Kind mit dem Song ‹Santa Evita› ausstrahlt, gehen jedem Erwachsenen im Saal unter die Haut. Und der Schluss-Applaus für das Kind ist immer dreimal lauter und wilder als bei allen anderen Darstellern. Es stiehlt allen anderen Mitwirkenden regelrecht die Show, es ist einfach herrlich, das mitzuerleben!»
Wird Andrea, Noemi oder ein anderes Mädchen im November auf der grossen Bühne stehen und den anderen «Evita»-Stars die Show stehlen? Die Namen werden erst in einigen Tagen bekannt gegeben. Doch eines haben alle der Bewerberinnen bereits bewiesen: ungeheuren Mut!