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Sicher nicht Iowa
Eigentlich umgehe ich die Frage, ob ich mir ein Leben fernab der Schweiz vorstellen könnte, seit ich Beziehungen führe. Es gab zwar nicht viele Männer in meinem Leben, aber irgendwie schienen sie immer aus einem anderen Land zu kommen. Und so bin ich denn auch recht geübt darin, Gespräche übers Auswandern zügig und ohne eindeutige Antwort zu beenden, als ich denjenigen Mann kennenlerne, den ich dereinst heiraten sollte. Denn auch er hat, natürlich, seine Wurzeln woanders.
Aber so ausgereift meine Ausweichstrategien inzwischen sein mögen, eines ist klar: Ihr Erfolg ist von begrenzter Dauer. Also schaue ich eines Tages eben doch dorthin, wo der Blick meines Mannes schon länger ruht, in die nähere Zukunft nämlich. Es ist Winter, unser Sohn sitzt neben uns im Maxicosi, wir sind in einem dieser Zürcher Cafés, in denen frostige Kellnerinnen einem das Frühstück auf reizenden Etageren servieren. «Iowa», sagt mein Mann. Sein Vertrag in der Schweiz läuft bald aus, ein neuer Job hier ist unwahrscheinlich. Ich mache ein Gesicht, als hätte er gerade vorgeschlagen, dass wir noch mindestens sieben weitere Kinder haben. Was soll ich denn in Iowa? Ich sehe mich schon den Kinderwagen endlose, von Fast-Food-Lokalen gesäumte Strassenabschnitte ohne Trottoirs entlangstossen, dabei habe ich natürlich keine Ahnung von Iowa. «Rom?» fragt er, und der Kinderwagen ruckelt stattdessen über holprige Pflastersteinstrassen, wir zwängen uns an Touristenströmen und an hupenden Verkehrsmitteln vorbei. Nein, Rom fällt auch weg.
Lissabon aber, diese Stadt mit ihrer behaglichen Betriebsamkeit, ihrer unaufdringlichen Würde, doch, das könnte passen. Nicht zu weit weg von den Meinigen, und näher bei der Familie meines portugiesischen Mannes, an einem Ort, an dem der Sommer eine Jahreszeit ist, die diese Bezeichnung auch verdient.
«Lissabon», sagt mein Mann, es sind inzwischen einige Monate vergangen, “hat einen Job für mich.” Jetzt gehen wir also wirklich? Kurz macht sich ein Schreck breit. Jetzt gehen wir also wirklich. Zum ersten Mal denke ich darüber nach, wie viele Menschen um mich herum genau diesen Schritt gemacht haben, mein Vater und seine Brüder, mein Mann und die Männer, die vor ihm waren, die Eltern meiner Freundinnen. Die 100 000 und mehr Menschen, die jedes Jahr in die Schweiz kommen, sie lassen ihre Mütter zurück und ihre Freunde, ihre Lieblingscafés, ihre Gewohnheiten, manche für ein paar Jahre, manche für immer. Jetzt bin ich eine von ihnen.
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Ümit Yoker (Jahrgang 77) hätte nie gedacht, dass sie je einen grösseren Umzug wagt als einst den vom zugerischen Baar nach Zürich. Doch die Tochter eines Türken und einer Schweizerin sollte die grosse Liebe in Form eines Portugiesen finden, und nach ein paar gemeinsamen Jahren in der Schweiz und der Geburt von zwei Söhnen zieht die Familie 2014 nach Lissabon. Hier hat sich die Journalistin bisher noch keinen Augenblick fremd gefühlt. In ihrem Blog erzählt sie von Neuanfang und Alltag in der Ferne.