Sexualität
Unser Sexleben wird digital
Was Porno per Handy und Dating per App für Liebe und Erziehung bedeuten. Ein Gespräch mit der Ärztin und Therapeutin Heike Melzer über scharfe Reize, blasse Partner – und Fruchtzwerge.
Heike Melzer (*1965) ist Neurologin, Paar- und Sexualtherapeutin aus München. In ihrem Buch «Scharfstellung» geht es um den per Smartphone und Computer allzeit digital verfügbaren Sex und dessen Auswirkungen auf Liebe, Partnerschaft, Erziehung und Fantasie.
H.Melzer: «Scharfstellung – Die neue sexuelle Revolution», Tropen, Fr. 26.90.
➺ Infos unter: dr-med-heike-melzer.de
wir eltern: Frau Melzer, Sex sells scheint auch für Ihr Buch «Scharfstellung – Die neue sexuelle Revolution» zu gelten. So viel Medienpräsenz hat ein Sachbuch selten.
Heike Melzer: Ist doch prima. Und ich freue mich natürlich darüber. Ich denke, dass das Interesse mehrere Gründe hat: Erstens ist es ein heisses Thema, zweitens kommt die «zweite Revolution» 50 Jahre nach der ersten sexuellen Revolution, rund zehn Jahre nach Erfindung des Smartphones… Aber der vermutlich wichtigste Grund: So langsam merkt jeder, dass sich der Sex ändert; Pornografie, Dating-Apps, Sex-Toys allgegenwärtig sind. Und dass die ganzen Superstimuli weitreichende Kollateralschäden zeigen.
Wenn ich Ihr Buch nicht gelesen hätte, würde ich nun denken, es würde jetzt moralisch und schmallippig …
Überhaupt nicht. Ich bin ja von meiner Art her eher robust aufgestellt, finde Masturbation kreuznormal und habe auch keine Berührungsängste mit Pornografie. Aber ich merke in meiner Praxis, dass sich die Probleme, mit denen die Menschen zu mir kommen, in den letzten zehn Jahren klar gewandelt haben und neue Probleme entstanden sind.
Beispielsweise?
Früher kamen Paare wegen Langeweile in der Partnerschaft. Oder weil sie nie wollte oder er zu früh kam. Heute habe ich 20-jährige Männer, die Viagra schlucken müssen, mehr Sexsüchtige, mehr Unberührte – und sehr viele, die zwar keine Lust mehr auf den Partner haben, dafür aber eine innige Beziehung zu ihren Handys pflegen und den damit abrufbaren Pornofilmen. Die erste sexuelle Revolution hat durch die Pille aus dem Bündel Liebe/Lust/Fortpflanzung die Fortpflanzung gelöst. Das war eine Entlastung. Jetzt hat das Internet die Lust von der Intimität entkoppelt.
Und damit den Geist aus der Flasche gelassen?
Kann man so sagen. Heutzutage sind Pornofilme per Handy allzeit abrufbar. Und werden abgerufen. 81 Millionen Besucher pro Tag hat die weltgrösste Pornostreaming-Plattform. Jede Sekunde werden da 118 Gigabyte gestreamt. Verstehen Sie mich richtig, ich will nichts werten oder als Pfui darstellen, aber das alles macht etwas mit uns. Es ist wie mit dem Essen: Dauernd Fastfood in sich reinzustopfen macht krank und wird auf längere Sicht die Möglichkeit zu wirklichem Genuss behindern. Es ist super, ab und an gründlich auf gesunde Ernährung zu pfeifen. Aber wenn einem wegen der ständigen quietschsüssen Fruchtzwerge mit künstlichem Erdbeeraroma echte Erdbeeren plötzlich fad vorkommen, dann läuft etwas schief.
Pornos sind die Fruchtzwerge?
Die Fruchtzwerge sind Pornografie, Kontakt-Apps, Prostitution oder – das betrifft eher die Frauen – Sextoys. Ein Beispiel: Mit einem Vibrator, der mit einer Frequenz von 200 Hertz stimuliert, kommt keine Hand, kein Penis und keine Zunge mit. Der stärkere Reiz überschreibt den schwächeren, der Partner wirkt dagegen blass.
In Ihrem Buch schildern Sie, wie das Gehirn durch den Konsum von viel Pornografie umgebaut wird.
Ja, es entstehen andere Muster. Zunächst einmal wird die Fantasie in neue Bahnen gelenkt, man stösst im Netz ja auf Sachen, auf die wäre man gar nicht gekommen. Die ersetzen dann manchmal die alten Vorstellungen dessen, was erregend ist. Und so wird Erregung an etwas anderes gekoppelt. Aus: «Wow, meine Frau ist da, ich kriege Lust auf Sex.» Wird: «Wow, meine Frau geht zum Zumba-Kurs, ich kriege Lust auf Filmchen am Computer.» Das verfestigt sich. Klassische Konditionierung. Und aus einem Trampelpfad im Gehirn wird eine Autobahn. Dazu kommt ein Sich-Hochschaukeln. Die Reize müssen ständig stärker werden.
Und das macht was mit der Partnerschaft?
Im schlimmsten Fall ist die erotischste Beziehung dann die zu einem Bildschirm. Bestimmte angewöhnte Masturbationstechniken und Kicks durch Bilder machen Liebe zu zweit vielleicht irgendwann kompliziert. Manchmal sogar zu kompliziert, um sich überhaupt noch darauf einzulassen.
Das sind ja düstere Zukunftsaussichten. Apropos Zukunft: 60 Prozent der 11-Jährigen besitzen ein Handy. Was wird das alles mit unseren Kindern machen? Kinderhirne sind ja noch besonders beeinflussbar.
Ja, das sind sie. Wir Erwachsenen sollten versuchen, sie zu beschützen. Wie vor Alkohol. Allerdings wird kein noch so cleverer Blocker oder eine Zeitschaltuhr oder was auch immer verhindern, dass sie den Filmen im Netz begegnen.
Meine Tochter hat vor ein paar Jahren ihre Lieblingshunde, Möpse, gegoogelt …
(lacht) Das Ergebnis wird sie überrascht haben. Wegen solcher Vorfälle ist es wichtig, dass Aufklärung deutlich vor der Pubertät beginnt. Immer mal wieder. Wenn sichs gerade ergibt. Wenn es zur Situation passt. Aber bitte nicht dieses oberpeinliche «Kind, wir müssen mal reden»-Gespräch am Wohnzimmertisch.
Gibt es überhaupt noch etwas aufzuklären? Die Kinder kennen – zumindest in der Theorie – oft Ausgefalleneres als ihre Eltern.
Früher galt es, ein Zuwenig an Information zu beseitigen. Heute gilt es, ein Zuviel einzuordnen. Das Zuviel kann belastend sein. Manche Teenies denken ja, gleich beim ersten Mal müssten sie Analsex haben, nur weil sie das im Film gesehen haben. Das überfordert einen Teenager enorm. Als ob man beim ersten Mal nicht ohnehin schon genug Stress hätte.
Die Filme verändern also nicht nur Erregungsmuster, sondern auch Gewohnheiten und Erwartungen.
Sogar die Ästhetik. Ich habe mich damals schon wahnsinnig sexy gefühlt, weil ich mir die Unterschenkel rasiert habe, heute muss– ausgelöst durch die Filme – jedes Härchen ratzekahl weg. Sieht man noch eine Frau mit vollem Busch, denkt man inzwischen unwillkürlich: Was ist das denn für eine Wilde?
Tja. Vermutlich werden wir aber das Rad der Zeit nicht zurückdrehen. Die Zeiten, in denen ein Jüngling beim Anblick eines Frauenknöchels errötete, sind wohl für immer vorbei.
Ist auch völlig okay, solange es keine Probleme macht. Aber wenn Schönes plötzlich nicht mehr schön ist, ehemals Reizvolles nicht mehr reizt, alles schal wird, nur noch das Schärfste kickt und Beziehungen knirschen, dann ist vielleicht Zeit für ein Reboot.
Sex-Detox?
Warum nicht. Eine Art Fastenkur kann helfen, Süchte abzubauen und neu zu sensibilisieren. Noch mal zu meinen Essensbeispielen, die sich gut eignen, weil es auch um ein Grundbedürfnis, Genuss, Gewohnheit und Suchtgefahr geht. Also: Nehmen wir Schokolade. Wer die tonnenweise in sich reinstopft und daher an jeder Pobacke 50 Kilo zu viel hängen hat, wird ein einzelnes exquisites Stück Schokolade nicht geniessen. Ich habe mir übrigens die beste Schokolade der Welt bestellt. Italienische. Jedes Täfelchen hat 4,7 Gramm.
Was sollte man also tun – ausser im Internet zu recherchieren, was das wohl für eine tolle Schokolade ist?
(lacht) Mein Buch kaufen, natürlich. Aber im Ernst:
♦ Sich mit dem Thema beschäftigen. Man sieht nur, was man für möglich hält. Glauben Sie mir, keine Ehefrau geht davon aus, dass ihr Mann emsiger Freier ist, keine davon, dass die überlangen WC-Zeiten mit Handy andere Gründe als gastroenterologische haben könnten.
♦ Vor der eigenen Tür kehren. Die eigene Sexualität unter die Lupe nehmen.
♦ Miteinander reden. Dabei hilft es, ein bisschen in Vorlage zu gehen, von sich selbst zu sprechen, statt den Partner sofort an die Wand zu stellen und hinzurichten. So kommt man vielleicht gemeinsam weiter und wieder von einem «Ich» und «Du» zu einem «Wir». Wär doch schön. Schliesslich kommt noch Einiges auf uns zu. Ich war neulich in Japan, da gibt es in der Branche computertechnische Spielereien, da war selbst ich platt. Und das ist selten.