Familienleben
Sehnsuchtsort Familie
Lächelnd steht der ältere Herr mit adretter Ehefrau und Kindern im Vorgarten. Langsam fährt die Kamera über akkurat geschnittenen Rasen, hinein in die grosse Familienküche. Einen Schnitt später hockt der Papa im Kreise seiner Lieben auf dem Sofa. Ein Klischee wird ans andere gereiht, in deren Zentrum steht Ozzy Osbourne. Der Ozzy, der noch vor 28 Jahren einer Fledermaus auf offener Bühne den Kopf abgebissen hat. Das enfant terrible der Rockmusik posiert mit Finken für die Reality Show «The Osbournes», statt mit Blut im Mund und Gift in den Adern für die Fans. Wenn das keine Kehrtwende ist! Oder vielleicht bloss Ausdruck von Zeitgeist? Denn: Familienleben ist en vogue.
Längst haben wir uns daran gewöhnt, dass die grossen Stars mit kleinen Babys für Schlagzeilen sorgen und nicht mehr mit zertrümmerter Hotelzimmern. Adoptiert oder selbst gemacht, sind Kinder heute der beste Garant für mediale Aufmerksamkeit. Frauen, die Dreiviertel ihres Lebens bereits gelebt haben, glauben zum vollkommenen Glück brauche es noch ein Baby. Jugendliche, die das Rebellentum sonst gern für sich gepachtet haben, erklären laut «Life»-Studie (Lebensläufe ins frühe Erwachsenenalter) «eine eigene Familie gründen» zum höchsten Lebensziel, und 97 Prozent der Erwachsenen, so eine Emnid-Umfrage, finden «Familie ist das höchste Gut». Ja, was ist denn da passiert?
Galt nicht noch vor Kurzem das Reihenhaus als eine Art Vorhölle? War Sonntagsbratenessen mit Oma und Opa nicht der Inbegriff von Spiessigkeit? Was ist aus dem 68er-Schlagwort von der Familie als «Unterdrückungszusammenhang» geworden? Aus «Wer einmal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment?» Weg.
Moderne Grossbaustelle
In Zeiten, in denen alles schwankt, nur die Bereitschaft zu globaler Mobilität vor dem beruflichen Abstellgleis bewahrt und in Städten jede zweite Ehe vor dem Scheidungsrichter endet, wird Familie zum Sehnsuchtsort. Zum Hort der Beständigkeit, der Ruhe, der Geborgenheit. Wenn die Welt draussen kalt ist, wächst das Bedürfnis nach dem heimeligen Herd.
Dazu passt, wie in der Süddeutschen Zeitung zu lesen, dass nie mehr Adventskalender verkauft wurden als in diesem Winter. Beliebtestes Motiv: Nostalgie. Die CD-Verkäufe brechen in allen Sparten um ein Drittel ein, nur der Bereich Volksmusik boomt. Teenies hocken vor bombastisch bonbonbunten Bollywoodfilmen, Erwachsene gucken beim perfekten Dinner anderen beim gemeinschaftlichen Essen zu und die anstehende Hochzeit von Kate Middleton und Prinz William wird, als hätte Dianas Tod Märchenprinzessinnenträume nie erschüttert, dem Königreich umgerechnet 1,4 Milliarden Franken in die Kassen spülen: ein Grossteil davon durch den Verkauf von Kate- und William-Tassen, -Kissen und -Kitsch. Coolness und Pragmatismus sind passé. Gefühl, Tradition und – Stammbaum sind angesagt.
Dass der Mythos von der heilen Familie mit der Wirklichkeit ähnlich viel zu tun hat wie die «Waltons» mit einer Familie aus Schwamendingen, stört nicht. Im Gegenteil.
Das Bild der Familie steht offenbar umso klarer und strahlender da, je brüchiger der Rahmen geworden ist. Der Wunsch nach Vater-Mutter-Kind-Idylle treibt grosse und bunte Blüten, obwohl es wohl nie zuvor so schwer wie heute war, zu beschreiben, wie genau diese Idylle überhaupt gelebt werden sollte. Gab es bis vor wenigen Jahren noch klare Rollenvorschriften, wie eine gute Mutter zu sein hat, worin der Job eines verantwortungsvollen Vaters besteht und wie oft wöchentlich das Bett bezogen werden muss, so schwankt derzeit alles. Beziehungen werden neu austariert, Zuständikeiten ausdiskutiert, Rollenbilder verhandelt. Familie – die kleinste Zelle unserer Gesellschaft ist zugleich deren grösste Baustelle. Klar ist nichts, ausser: Das Bild von der Familie in den Köpfen. Das ist dafür umso aufgeräumter, ordentlicher, schöner.
Die Werbung weiss das schon lange. Illusion ist gefragt, nicht Wahrheit. Mehr denn je.
«Menschen leben mit ihren Idealisierungen», sagt der Markenberater Klaus Brandmeyer im Wirtschaftsmagazin «brand eins». «Sie wollen in der Werbung nicht die Realität vorgeführt bekommen. Lieber sehen sie das, was sie erhofften, als sie schwanger wurden. » Businessfrauen mit Handy am Ohr und Baby auf dem Arm ziehen werbetechnisch genauso wenig wie zankende Eltern oder eine Location mit coolem Küchentresen. Lange Familientische, gefüllt mit glücklichen Menschen, wollen potenzielle Käufer sehen. Dass die gemeinsame Mahlzeit in vielen Familien zur Rarität verkommen ist, tut den Träumen keinen Abbruch. Genauso wenig wie es am Mythos kratzt, dass der sehnsuchtsvolle Seufzer nach der guten alten Zeit, als angeblich Jung und Alt in trauter Eintracht unter einem Dach lebten und einer für den anderen einstand wie einst dArtagnan für seine Kumpel, jeglicher Grundlage entbehrt.
Kurze Visite im Kinderzimmer
Vielmehr war Familie über Jahrhunderte ein eher emotionsfreier Raum, gegründet auf materiellen Interessen: da galt es zu erben, Dynastien zu stärken, Höfe zu erhalten, Vermögen zu mehren oder eine zusätzliche Arbeitskraft zu akquirieren. Von grosser Liebe unter den Eltern oder zu den Kindern keine Spur. Wenn, wie noch vor 100 Jahren in ländlichen Gebieten, jedes vierte Baby starb, tat man gut daran, fest ans Jenseits zu glauben und nicht zu fest an dem kleinen Wesen zu hängen. Und da noch vor zwei bis drei Generationen zwischen vier und zehn von hundert Frauen im Kindbett starben, waren Zweitehen, Patchworkfamilien, Stiefeltern an der Tagesordnung. Nicht umsonst tummeln die sich bei den Brüdern Grimm in grosser Zahl.
Auch die Idylle von Apfelkuchen backender, stillender Hausfrau ist nichts anderes als ein romantisches Konstrukt. Im alten Rom waren die Sklaven für die Kinder zuständig. Das Grossbürgertum des 19. Jahrhunderts hätte es zutiefst barbarisch gefunden, wenn eine Dame ihren Busen für ein Baby ausgepackt hätte; wozu gab es schliesslich Ammen? Der Adel genügte seinen Elternpflichten vollständig dadurch, dass Herr Papa und Frau Mama ab und an zu einer kurzen Visite im Kinderzimmer vorbeischauten. Bauersfrauen überliessen während der Feldarbeit ihre Babys den Mägden oder, Gott seis befohlen, gleich sich selbst. Und, so der Spiegel: «Von den 21 000 Pariser Neugeborenen des Jahres 1780 wurden weniger als 1000 von der eigenen Mutter versorgt.» Die heile Familie der guten alten Zeit ist also reine Verklärung.
Einzig in den 50er-Jahren, nach Krieg, Hunger und Tod, bastelten sich die Menschen ihre Familienpuppenstube. Wie glücklich die Frauen, Männer und Kinder mit ihrer traditionellen Rollenaufteilung, Plastikblumen, gebügelten Nastüchern und «Hol Papi mal die Zeitung» waren, weiss man nicht.
Vielmehr ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass heutige Familien – allen Wuscheligkeiten zum Trotz – die glücklichsten sind, die es jemals gegeben hat. Niemals war der Anteil an Wunschkindern so hoch, niemals hätten Kinder früherer Generationen zu 90 Prozent in Umfragen gesagt, sie verstünden sich prächtig mit ihren Eltern, nie zuvor haben massenhaft junge Menschen bis Mitte 20 friedlich mit ihren Eltern unter einem Dach gewohnt.
Und ganz neu ist, dass Familie zur wirtschaftlichen Grösse wird, Firmen «Familienangelegenheiten» ernst nehmen, die Familienfreundlichkeit ihres Unternehmens als Mehrwert anpreisen: Wenn Fachkräfte fehlen, wird eine dem Arbeitnehmer garantierte Work-Life-Balance zum Investment. Zählt doch längst für Frauen und Männer bei der Wahl ihres Arbeitsplatzes nicht mehr allein der Lohn; für 90 Prozent der 25- bis 39-Jährigen ist inzwischen die Familienfreundlichkeit des Arbeitgebers ebenso wichtig wie das Gehalt.
Und das hat nicht nur damit zu tun, dass «Familienleben», «Kinder aufwachsen sehen», «etwas weitergeben können» derzeit gerne schon mal mit einer Gloriole versehen wird, sondern ist durchaus realistisch. Denn Familie ist mehr als Fortpflanzung, mehr als Zwangsgemeinschaft und gemeinsame Gene. Familie ist Kultur und – ob man will oder nicht – absolut lebensprägend.
Bratwurst, Rösti und das Wir-Gefühl?
Der Satz «Blut ist dicker als Wasser» mag abgedroschen sein, wahr ist er trotzdem. Im Elternhaus entscheidet sich, welchen Bildungsabschluss Kinder erreichen. Daheim werden die Weichen gestellt, wie glücklich der Nachwuchs in eigenen Beziehungen wird, haben doch Scheidungskinder eine doppelt so hohe Wahrscheinlichkeit, später selbst geschieden zu werden. In der Familie fallen die Würfel, in wen wir uns verlieben. So haben Tamas Bereczkei und seine Kollegen der ungarischen Universität Pecs herausgefunden: Junge Frauen wählen – besonders bei einer guten Vaterbeziehung – bevorzugt einen Partner, der Papa ähnlich sieht; vor allem was Augen und Nase anbelangt. Junge Männer nehmen, wenn auch etwas weniger deutlich ausgeprägt als bei der weiblichen Partnerwahl, gern Frauen, die an Mama erinnern. Was ein Kind kennt, was vertraut ist, wird es mögen und nachleben.
So pflanzt sich die Liebe zu Lachfältchen, Büchern, Basketball und Bratwurst mit Rösti durch die Generationen fort, aber auch: Langzeitarbeitslosigkeit, Teenagerschwangerschaften, Alkoholismus und Angststörungen.
Vor allem im Bereich der Werte funktioniert das, was Wissenschaftler «Transmission» nennen, nahezu ohne Abzüge. Laut Untersuchungen des deutschen Entwicklungspsychologen Helmut Fend wählen Kinder aus konservativem Elternhaus später gleichfalls zu 80 Prozent konservativ, diejenigen mit «grünen» Eltern sogar zu 100 Prozent grün. Ähnlich geradlinig werden Rituale und Bräuche von Generation zu Generation weitergegeben. Weihnachten gab es daheim immer Gans? Klar, was später bei der eigenen Familie an den Feiertagen auf dem Tisch steht. Krach ist programmiert, wenn es beim Partner Fondue war. Zum Geburtstag der Kinder wird «Wie schön, dass du geboren bist, wir hätten dich sonst schwer vermisst» gesungen und zur Feier des Tages darf das Geburtstagskind aus diesem speziellen blauen Glas trinken? Die Chancen stehen gut, dass nach dem Tod der Eltern ein erbitterter Erbstreit unter den Geschwistern um das doofe Glas entbrennt.
65 Prozent der Grosseltern, haben amerikanische Forscher festgestellt, entdecken bei ihren Enkeln exakt die gleichen Rituale, die sie selber mit ihren Kindern gepflegt haben. Traditionen prägen das Wir-Gefühl. Das Rüebli, das Ostern für den Hasen auf der Fussmatte zu liegen hat, ist viel mehr als nur ein Rüebli: die Rübe ist identitätsstiftend. Zwar distanzieren sich Kinder in der Pubertät schon mal von Karotte und Co, doch spätestens wenn das eigene Töchterchen auf den Osterhasen wartet, liegt die Möhre da. Klar kann sich jeder gegen Traditionen und Familienmythen wehren, nur – helfen tut es selten. Vielmehr, so Wissenschaftler, ist die Familie «die Matrix unserer Identität»; je stärker man sich versucht, dagegen zu stemmen, desto verlässlicher schleicht sie sich durch die Hintertür wieder rein. Der amerikanische Familienforscher Ivan Boszormenyi-Nagy bezeichnet diese Art «Wiederholungszwang» als «invisible loyalities». Tragische Familienmuster, wie etwa die über Generationen weitergegebene Selbstmordneigung bei den Hemingways, sprechen eine deutliche Sprache.
Erfreulicherweise sind solche drastischen Traditionen aber nur ähnlich weit verbreitet wie abgebissene Fledermausköpfe. Die Sehnsucht «Familienleben» mag vielleicht dereinst ein bisschen abebben, verschwinden wird sie hoffentlich nicht. Denn erwiesen ist: Zwei Drittel aller Menschen behaupten trotz nerviger Schwester, Tante Klaras staubtrockenem Geburtstagskuchen und Onkel Willis pointelosen Witzen: «Man braucht Familie zum Glück». Wahrscheinlich haben sie recht.