Schwangerschaft / Vorsorge
Schwanger, nicht krank!
Der Preis für die zahlreichen Tests während der Schwangerschaft ist hoch. Ängste und Stress belasten nicht nur die Mütter und Väter, sondern auch die ungeborenen Kinder. Wie raus aus dem Teufelskreis?
Gynäkologen, Hebammen und die gesamte Fach- und Ratgeberliteratur scheinen sich einig zu sein: Die Schwangerschaft ist keine Krankheit. Doch was nützt es, diesen Satz gebetsmühlenartig zu wiederholen, wenn sie in der (Arzt-)Praxis genauso behandelt wird? Da wird nämlich vor allem eins: kontrolliert, gemessen, getestet, geprüft, berechnet, verglichen, prognostiziert. Und das Risiko ist hoch, dass im Wust der Zahlen und Daten irgendwo eine Auffälligkeit, eine Abweichung vom zu Erwartenden, eine Differenz zur Norm entdeckt wird. Zynisch, ja gar ein bisschen scheinheilig scheint die eingangs erwähnte Aussage in diesem Licht betrachtet.
Leistungen bei Mutterschaft gemäss dem Bundesamt für Gesundheit.
Kriterien für eine Risikoschwangerschaft
www.vertrauensaerzte.ch/manual/chapter28.html
Frei praktizierende Hebammen finden
www.hebamme.ch
Hebammenpraxis von Barbara Schwärzler
www.hebammenpraxisdreieck.ch
Eine Übertreibung? In Deutschland sorgte kürzlich eine Studie der Bertelsmann- Stiftung für Aufsehen: Über 100 Tests werden bei einer schwangeren Frau im Durchschnitt während der neun Monate gemacht. Manche dieser Tests, so die Studienverfasserinnen, sind weder evidenzbasiert noch entsprechen sie den deutschen Mutterschaftsrichtlinien. In der Schweiz gibt es hierzu keine Zahlen; Fachleute gehen jedoch davon aus, dass die Daten mit Deutschland vergleichbar sind. Denn auch bei uns haben die diagnostischen Leistungen in den letzten Jahren zugenommen und ein Ende ist nicht abzusehen. Die medizinische Überversorgung ist eine Realität.
Keine klaren Richtlinien
Zweifellos: Schwangerschaft und Geburt sind eine Herausforderung und bergen Risiken. Noch vor 100 Jahren endete das In- guter-Hoffnung-Sein für jede hundertste Frau tödlich. Heute ist die Müttersterblichkeit ungleich tiefer: In der Schweiz kommt auf rund 15 000 Schwangerschaften nur noch ein Todesfall. Grund dafür sind verbesserte Hygiene, Ernährung, medizinischer Fortschritt und nicht zuletzt die Vorsorgeuntersuchungen. In den vergangenen 20 Jahren gab es allerdings bei der Müttersterblichkeit keine weitere Verbesserung mehr, im Gegenteil, laut einem Bericht von «Save the Children» hat sie in der letzten Zeit sogar wieder leicht zugenommen. Und dies obwohl die Zahl der Kontrollen, Tests und Untersuchungen immer noch steigt.
Verbindliche Mutterschaftsrichtlinien wie in Deutschland gibt es in der Schweiz nicht. Von Kanton zu Kanton, von Arzt zu Arzt ist verschieden, was untersucht wird. Die Krankenpflege-Leistungsverordnung (KLV) legt zwar rudimentär fest, was in einer normalen Schwangerschaft und was in einer sogenannten Risikoschwangerschaft bezahlt wird. Die Gynäkologen scheint dies jedoch kaum zu kümmern. An die Vorgabe von sieben Untersuchungen plus zwei Ultraschallkontrollen bei einer gesunden Schwangeren hält sich fast niemand. Manche Ärztinnen machen bei jedem Termin Babyfernsehen und die Eltern freuen sich über Bildchen, auf denen das Ungeborene im besten Fall aussieht wie eine Bronzeplastik. Andere Mediziner, wie die Praxis für Frauenheilkunde in Frauenfeld, vermitteln auf ihrer Website den Eindruck, fünf Ultraschall-Untersuchungen seien Standard für alle Schwangeren.
Türöffner für sämtliche Tests
Was von der Realität im Prinzip gar nicht so weit entfernt ist. Wer nämlich den Patientinnen, pardon: Schwangeren, mehr Gesundheitsdienstleistungen angedeihen lassen will, als es die KLV vorsieht, bedient sich eines einfachen Mittels: Die Frau wird in die Gruppe der Risikoschwangeren eingeteilt. Deren Zahl hat sich in den vergangenen 25 Jahren mehr als verdoppelt: von 34 auf 76 Prozent – drei von vier Frauen gehören heute zu dieser Kategorie. «Man kann jede Frau zur Risikoschwangeren erklären», sagt eine Geburtshelferin, die nicht genannt sein will. Schliesslich braucht es keine manifeste Pathologie, also nichts, was bereits eingetreten wäre. Es genügt eine Angst, eine beobachtete Abweichung vom Normalen – ein Risiko eben, dass etwas in naher oder fernerer Zukunft nicht regelkonform ablaufen könnte. Dazu gehört bereits ein Alter von unter 18 und über 35 Jahren, die Befürchtung, dass sich das Kind weniger bewegt oder vorzeitige Wehentätigkeit. Von jetzt an stehen sämtlichen Untersuchungen und Tests Tür und Tor offen. Damit soll nicht gesagt werden, dass es nicht Fälle gibt, wo engmaschige und detaillierte Kontrollen absolut nötig sind und Sinn machen.
Zwei Probleme gibt es im Zusammenhang mit der Überversorgung. Das eine ist finanzieller Art. Unser Gesundheitssystem hat etwas von einem Selbstbedienungsladen. Zwar gibt es die Vorgabe, dass medizinische Leistungen nur bezahlt werden, wenn sie wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich sind. Wer genauer hinschaut, erhält den Eindruck, dass es sich dabei um ein Lippenbekenntnis handelt. Das zeigt das Beispiel CTG, die kardiotokografische Untersuchung. Mit dem CTG werden im letzten Schwangerschaftsdrittel und während der Geburt die Herztöne des Kindes sowie die Wehen gemessen; das CTG ist aber kein Diagnose- sondern ein Screening-Instrument. 2012 zeigte eine Metaanalyse, dass es nicht dazu beiträgt, Probleme beim Kind frühzeitig zu erkennen. Trotzdem wird es weiterhin routinemässig eingesetzt. Mit zweifelhaftem Erfolg: «Das CTG verhindert keine Hirnschäden oder Todesfälle, sein Einsatz treibt im schlimmsten Fall die Kaiserschnittrate in die Höhe», so Christiane Schwarz, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Medizinischen Hochschule Hannover. Das alles kostet. Doch wer jetzt meint, die Krankenkassen würden den Gynäkologen auf die Finger schauen, irrt. Santésuisse, die Dachorganisation der Krankenversicherer, schreitet laut Auskunft ihres Mediensprechers nur ein, wenn ein Gynäkologe mehr als 30 Prozent mehr Umsatz macht als seine Kollegen in der Region. Anders gesagt, so lange alle am gleichen Strick ziehen, muss sich nichts ändern. In England hat das irgendwann nicht mehr funktioniert. Es war schlicht nicht mehr genug Geld da, um die stetig steigenden Gesundheitskosten zu bezahlen. Man musste neue Wege suchen. Ähnlich wie in den skandinavischen Ländern und Holland gehen die Engländerinnen heute deshalb in erster Linie zur Hebamme in die Schwangerschaftsvorsorge. Diese macht Blut-, Urin- und Gewichtskontrollen, tastet den Bauch und hört das kindliche Herz ab. Ist etwas nicht in Ordnung, schickt sie die Frau zur Gynäkologin. Das ist deutlich günstiger, weil Hebammen einen Bruchteil dessen verdienen, was ein Gynäkologe verrechnen kann. Der Nebeneffekt: Wie auch die nordischen Länder und Holland hat England eine deutlich tiefere Kaiserschnittrate als die Schweiz, nämlich 24 Prozent.
Stress: Gift für Fötus
Doch der pathologische Blick auf die Schwangerschaft und die zahlreichen Kontrollen haben noch gravierendere Folgen. «Schwangere zahlen für den vermeintlichen Schutz, den die vielen Routineuntersuchungen bieten sollen, einen hohen Preis, denn die oft damit verbundenen Ängste und Sorgen können rasch in einen anhaltenden Stresszustand münden», weiss Beatrix Angehrn Okpara, leitende Hebamme im Geburtshaus Bäretswil ZH. Viele Frauen berichten, dass sie über Wochen angespannt waren, weil die Ärztin mit gerunzelter Stirn und Blick auf den Bildschirm geäussert hatte, das Köpfchen sei etwas klein, deswegen eine weitere Untersuchung anordnete oder sonst irgendeine Diskrepanz aufgespürt hatte. Stress, das weiss man heute, hat eine direkte Wirkung auf die Blutzuckerwerte; das ist weder für die Mutter noch für das Kind gut, wobei die Konsequenzen für das Kind schlimmer sind, Stichwort fetale Programmierung. Immer mehr Forschungsbefunde deuten darauf hin, dass einschneidende Belastungen während der Schwangerschaft bleibende Spuren im Gehirn des Ungeborenen hinterlassen können.
Manche Frauen haben sich aus diesem Grund entschieden, sich und ihre Schwangerschaft einer Hebamme anzuvertrauen. Dass Hebammen auch Schwangerschaftskontrollen machen dürfen, wissen viele Frauen nicht. Bis Mitte des vergangenen Jahrhunderts gehörten die Vorsorgeuntersuchungen ganz selbstverständlich zum Tätigkeitsbereich der traditionellen Geburtshelferinnen. Doch in den 1960er- Jahren wurde es plötzlich modern, für die Geburt ins Spital zu fahren, wo Gynäkologen die Hoheit über die urweibliche Fähigkeit, ein Kind zu gebären, erlangten. Die Dorf- oder Stadthebamme, die die Frau bisher ganzheitlich durch Schwangerschaft und Geburt begleitet hatte, starb nahezu aus. Und hinterliess eine Lücke. «Bei vielen Frauen ist neben den körperlichen Untersuchungen das Bedürfnis nach einem Gespräch gross», sagt Barbara Stocker Kalberer, Präsidentin des Schweizerischen Hebammenverbands, «oft fehlt als Folge der zahlreichen Tests das Vertrauen in den eigenen Körper, viele Frauen sind von Ängsten geplagt.» Deshalb arbeiten heute immer mehr gynäkologische Praxen mit Hebammen zusammen, manche haben sich beim Arzt eingemietet, andere erhalten einen fixen Lohn. Die Schwangere kann wählen zwischen der Kontrolle bei der Hebamme oder bei der Ärztin.
Kritisch diesem Modell gegenüber steht Barbara Schwärzler, seit 13 Jahren selbstständige Hebamme und eine von zweien, die in der Stadt Zürich Hausgeburten durchführt. «Die Frauen wollen heute den Fünfer und das Weggli: den Arzt für sämtliche Tests, die Hebamme für die Wellness, weil der Arzt keine Zeit hat, nicht-medizinische Fragen zu beantworten.» Damit werde das Konsumverhalten, das in der heutigen Gesellschaft grassiere, auch auf die Geburtshilfe ausgeweitet. Schwärzler ist jedoch der Ansicht, dass es um etwas anderes geht: «Eine Schwangerschaft ist ein Prozess, auf den sich die Frau einlassen und für den sie die Verantwortung übernehmen muss.» Wenn eine Frau oder ein Paar zum ersten Mal zu ihr kommen, reserviert sich Schwärzler zwei Stunden, um «einen guten Boden» zu schaffen und dem Paar klar zu machen, dass bei einer normalen Schwangerschaft nicht mehr viele Kontrollen nötig sind.
Denn schliesslich ist die Frau nicht krank, sondern einfach nur schwanger.