Plötzlicher Kindstod
Schrecklich und kaum erklärbar
wir eltern: Herr Prof. Poets, ein Baby scheint gesund und munter – und stirbt plötzlich. Was steckt dahinter?
Professor Christian Poets: Die ehrliche Antwort lautet: Wir wissen es nicht. Doch wir haben Vermutungen. Es gibt offenbar Situationen, in denen ein Kind im Schlaf keine Luft mehr bekommt und trotzdem nicht aufwacht. Normalerweise befreien sich Babys selbst aus solchen Situationen. Das scheint im Fall des SIDS, also des Sudden Infant Death Syntrom oder plötzlichen Kindstods, nicht zu funktionieren.
Ist SIDS eigentlich eine Krankheit?
Nein, SIDS ist keine einzelne Krankheit, sondern ein Sammelbegriff für alle Todesfälle bei Babys, die wir nicht eindeutig erklären können. Manchmal kommt die Todesursache erst nach einiger Zeit zum Vorschein, zum Beispiel ein versteckter Herzfehler. Wenn so etwas nachträglich entdeckt wird, ist das aber kein SIDS mehr.
Können Sie uns einen Fall schildern, der Sie besonders beeindruckt hat?
Ich möchte Ihnen von einem Ereignis erzählen, das glimpflich ausgegangen ist. Das Baby schlief, die Eltern waren im Nebenzimmer. Plötzlich hörten sie eigenartige Geräusche. Sie reagierten sofort und fanden ihr Kind in einer gefährlichen Lage: Es hatte sich so in die weiche Umrandung des Gitterbetts eingekuschelt, dass seine Nase nicht mehr frei war. Das Baby hatte bereits auf Schnappatmung umgestellt, was nur kurz vor dem Tod passiert. Das war das seltsame Geräusch gewesen! Das Kind konnte reanimiert werden und hat sich erholt. Die Eltern haben ihm mit ihrer Aufmerksamkeit das Leben gerettet. Wir nennen so etwas ein ALE, ein «anscheinend lebensbedrohliches Ereignis».
Gibt es eine einzelne Ursache, die bei allen SIDS-Fällen mitspielt?
Sehr wahrscheinlich nicht. Nach dem heutigen Wissensstand spielen Sauerstoffmangel und ein ungenügend funktionierender Weckreiz in den meisten Fällen eine wichtige Rolle. Aber es gibt wohl auch andere Gründe. Wir forschen intensiv daran.
Sind auch vorgeburtliche Einflüsse wichtig für die SIDS-Gefährdung?
Rauchen während der Schwangerschaft erzeugt einen permanenten, leichten Sauerstoffmangel beim Ungeborenen. Die wissenschaftlichen Studien zum SIDS zeigen, dass dies später zu einem erhöhten Risiko führt. Auch andere, bei uns seltenere Ursachen können zu einem Sauerstoffmangel führen, etwa eine Blutarmut bei der Mutter.
Was soll mit den von Ärzten empfohlenen Schutzmassnahmen erreicht werden?
Die Empfehlungen sind alle entweder darauf ausgerichtet, einen Luftmangel zu verhindern, oder sie sollen dazu beitragen, dass die Babys im entscheidenden Moment schnell genug aufwachen. Liegt das Kind auf dem Rücken und kann es sich nicht in der Decke verfangen, ist die Erstickungsgefahr wesentlich reduziert. Es ist übrigens nicht wahr, dass Kinder in Rückenlage eher an Erbrochenem ersticken. Der Ratschlag, das Baby nicht zu warm einzupacken, hängt vor allem damit zusammen, dass überhitzte Kinder offenbar weniger rasch aufwachen.
Was ist die wichtigste Empfehlung?
Alle sind wichtig! Sie widersprechen sich nicht und können problemlos gemeinsam umgesetzt werden. Zwei Drittel der Kinder die an SIDS sterben, befinden sich in Bauchlage. Die Empfehlung, das Kind auf den Rücken zu legen, ist also sicher bedeutsam.
Welche Rolle spielt der Schnuller? Ist er wirklich zu empfehlen?
In Deutschland tun wir uns schwer mit einer generellen Schnuller-Empfehlung. Es gibt Studien, die eine deutliche Reduktion des Risikos zeigen. Eine englische Untersuchung zeigt aber keine höhere Rate an SIDS-Fällen bei Kindern, die nie einen Schnuller hatten. Scheinbar gibt es eine Schutzwirkung nur bei Babys, die einmal einen Schnuller hatten und denen das Teil weggenommen wird. Gleichzeitig kann ein Schnuller unter Umständen das Stillen stören, und das wollen wir natürlich nicht.
Wann ist eine Überwachung im Schlaf sinnvoll, zum Beispiel mit einem Babymonitor? Man hört hin und wieder von Atempausen bei Babys.
Nach allem, was wir wissen, haben Atemaussetzer nichts mit SIDS zu tun. Wir geben nur sehr kleinen Frühgeborenen, die noch Atemaussetzer haben, einen Babymonitor nach Hause, und das auch nur für einige Wochen. Es ist nicht sinnvoll, ein normales Baby damit zu überwachen, ja es kann sogar sein, dass die Eltern echte Alarmsignale verpassen, weil sie vom Kontrollieren und von harmlosen Atemunregelmässigkeiten so mitgenommen sind, dass sie nicht mehr richtig schlafen. Es bringt viel mehr, die üblichen Empfehlungen zu befolgen.
Die sind aber nicht immer einfach einzuhalten. Was, wenn das Kind einfach nicht auf dem Rücken schlafen will?
Nach unserer Erfahrung gibt es nie Probleme, sofern man das Kind vom ersten Tag an auf den Rücken legt. Aber man muss konsequent sein.
Reicht es nicht, sein Kind gut zu kennen und zu beobachten?
Sein Kind intensiv kennenzulernen ist gut, wichtig und für die Eltern auch sehr schön! Wir empfehlen deshalb, das Baby im Elternzimmer schlafen zu lassen, allerdings in einem eigenen Bettchen. So können Eltern auch bald auf feine Warnsignale reagieren. Leider reicht das aber nicht aus. Ich erlebe immer wieder Fälle, in denen dem Baby vorher absolut nichts anzumerken war. Auch Eltern, die ihr Kind gut kennen, können das SIDS-Risiko weiter senken, indem sie die einfachen Schutzmassnahmen beherzigen. Zwar können auch so nicht alle Kinder gerettet werden. Aber es lohnt sich für jeden einzelnen Todesfall, der verhindert werden kann.
Dr. med. Christian Poets ist Professor für Neu- und Frühgeborenenmedizin an der Universität Tübingen (D) und ärztlicher Direktor der Abteilung Neonatologie am Universitätsklinikum für Kinder- und Jugendmedizin. SIDS ist der Kurzbegriff für die Bezeichnung «plötzlicher Kindstod» und steht für Sudden Infant Death Syndrome.
Massnahmen gegen SIDS
Studien haben gezeigt, dass bestimmte Massnahmen das SIDS-Risiko wesentlich verringern. Die Elternvereinigung SIDS Schweiz (www.sids.ch) empfiehlt Folgendes:
- Das Baby zum Schlafen auf den Rücken legen, ohne es dabei aber in eine bestimmte Schlafposition zu zwingen
- Während der Schwangerschaft nicht rauchen und für eine rauchfreie Umgebung des Babys sorgen
- Eine Überwärmung des Babys vermeiden. Überschüssige Wärme gibt das Baby am besten über das Gesicht und den freiliegenden Kopf ab. Im Nacken lässt sich feststellen, ob es zu warm oder zu kalt hat. Die Kleidung des Babys den Umständen entsprechend anpassen, selbst wenn es gerade schläft
- Das Kind so ins Bett legen, dass es mit dem Kopf nicht unter die Decke rutscht
- Stillen: Muttermilch schützt den Säugling gegen Allergien und Infektionen
- Wenn das Stillen gut funktioniert, soll dem Baby ohne Zwang ein Nuggi angeboten werden, wenn es zum Schlafen gelegt wird. In Deutschland und anderen Ländern wird empfohlen, das Baby im Elternzimmer schlafen zu lassen, am besten im separaten Kinderbett (siehe Gespräch).