Versagensgefühle
Schmerz lass nach!
Es war ihre erste Geburt und Michelle Beyeler (37) war perfekt auf das Ereignis vorbereitet. Die Schwangerschaftskontrollen liess sie abwechselnd bei ihrer Gynäkologin und bei einer Hebamme machen. Sie hatte die Naturgeburtsbibeln von Frédérick Leboyer und der Allgäuer Hebamme Ingeborg Stadelmann studiert und war überzeugt von den Vorteilen einer interventionsfreien Geburt für Mutter und Kind. Das Baby lag, wie es sich gehört, Kopf voran im Becken. Ausgereift und parat, auf die Welt zu kommen.
Trotzdem klappte es nicht wie gewünscht. Nach 15 Stunden Wehen kam es zum Geburtsstillstand – und schliesslich zum Kaiserschnitt. «Ich war frustriert und fühlte mich um das Geburtserlebnis betrogen», erinnert sich Michelle Beyeler. Das behagliche Gebärzimmer wurde mit dem kühlen und technischen Operationssaal ausgetauscht, eine PDA gesetzt. Bauch aufgeschnitten. Kind herausgenommen. Kind kurz auf die Brust gelegt und gleich wieder weggenommen. Während der Vater das Neugeborene zur Untersuchung begleitete, lag Michelle Beyeler im Aufwachraum. Mutterseelenallein. «Ich habe nur noch geweint. Die halbe Stunde, bis die Kleine wieder bei mir war, ist mir vorgekommen wie eine Ewigkeit.» Auch drei Jahre später kann die junge Mutter nicht über die Geburt reden, ohne zu weinen.
Wie Michelle Beyeler wünschen sich die meisten Frauen eine natürliche Geburt. Auch wenn es kaum jemand öffentlich äussert, sind weite Teile der Gesellschaft, präziser: der weiblichen Gesellschaft, heute der Ansicht, dass nur diejenige Frau stolz sein kann auf die Geburt, die ihr Kind aus eigener Kraft und ohne medizinische Eingriffe gebärt. Alle anderen sind, entschuldigen Sie die Direktheit: Weicheier, Angsthasen, Versagerinnen, Tussis oder gleich alles zusammen.
Kein Wunder sind viele Frauen nach missglückter Spontan-Geburt zutiefst enttäuscht, leiden an Schuld-, Scham- und Minderwertigkeitsgefühlen, oft noch Jahre Geburtsspäter. «Ich kann nicht verstehen, dass ich medizin. das Natürlichste der Welt nicht zustande gebracht habe.» – «Mein Herz leidet, ich fühle mich wie eine totale Versagerin, eine ganz schlechte Mutter.» – «Ich habe das Gefühl, etwas sehr Wichtiges verpasst zu haben, keine richtige Frau zu sein.» In Internetforen klagen die Mütter ihr Leid, trösten sich gegenseitig. Während sie sich die Tränen aus den Augen reiben, erkennen sie, dass sie zu einseitig auf eine Karte gesetzt haben.
«Hätte ich mich nicht so verbissen auf eine natürliche Geburt fixiert, wäre ich wohl nicht halb so enttäuscht gewesen und hätte mich weniger als Versagerin gefühlt», sagt auch Michelle Beyeler. Die Politikwissenschaftlerin, die mit summa cum laude doktoriert hat und im Beruf bereits mehrfach ausgezeichnet wurde, stellte fest, dass sie sich in der Schwangerschaft indoktrinieren liess: Hebammen und Ratgeber würden nicht müde zu betonen, wie wichtig eine natürliche Geburt für Mutter und Kind sei, sagt sie. Gleichzeitig werde einem vorgaukelt, dass eine Geburt etwas ganz Natürliches sei und es an einem selbst liege, Medizinisches möglichst auszuklammern. «Es ist eine Art Hirnwäsche», ist Beyeler überzeugt. Sie fragt sich, ob sich die Verfechter der Natürlichkeit ihrer Mitverantwortung an den Schuldgefühlen der Frauen bewusst sind?
Trotz tapferen Vorsätzen, breitem Vorbereitungsangebot: Die Geburt ohne hormonelle Einleitung, chemische Schmerzlinderung oder operative Hilfe ist eine Seltenheit geworden. In Deutschland bringen bloss 8,2 Prozent der Schwangeren ihre Kinder gänzlich ohne medizinische Interventionen auf die Welt, wie die Hochschule für Gesundheit in Bochum kürzlich mitteilte. In der Schweiz dürfte die Zahl ähnlich tief sein.
Klaffen Ansprüche und Wirklichkeit derart weit auseinander, sind die Gründe dafür an verschiedenen Orten zu suchen. «Alle wollen eine natürliche Geburt – bis die Wehen beginnen», sagte Klaus Vetter, Chefarzt der Vivantes-Klinik Neukölln in Berlin, im März dieses Jahres an einer Ärzteweiterbildung in Zürich. Und meinte damit, dass wir heute eine unrealistische Vorstellung davon haben, was eine Geburt in Wirklichkeit ist. Nämlich sehr schmerzhaft. Wehen heissen nicht umsonst Wehen. Die Schmerzen sind zweifellos sinnvoll, um der hochschwangeren Frau zu signalisieren, dass das Baby im Begriff ist, seine schützende Höhle zu verlassen. Die Frau tut dann gut daran, einen sicheren Ort aufzusuchen, Hilfe zu beanspruchen. Das gilt 2011 genauso wie vor 500 Jahren. Doch anders als im Mittelalter wohnen wir heute in geheizten Häusern, erleben körperliche Anstrengung nur noch wohldosiert im Sport, schlucken eine Pille, wenn es irgendwo ziept und werden erst operiert nach vollständiger Schmerzausschaltung. «Unsere Leidensfähigkeit ist schlecht trainiert », sagt Franziska Krähenmann, Leitende Ärztin an der Geburtsklinik des Universitätsspitals Zürich.
Die grössere Schmerzempfindlichkeit allein erklärt die hohe Interventionsrate nicht. Krähenmann führt sie auch auf die gute Überwachung der Klinikgeburt zurück und darauf, dass heute niemand ein Risiko eingehen will, wenn es im Gebärzimmer nicht läuft wie am Schnürchen: «Wir greifen lieber zu früh ein als zu spät, wenn wir so einen Geburtsschaden vermeiden können.» Die Sicherheit im Spital hat ihren Preis.
«Die Kultur der Geburtshilfe hat sich gewandelt von einer natur- zu einer risikoorientierten Geburtshilfe», ist in der Juni-Ausgabe der Schweizer Hebammenzeitschrift zu lesen. Die Kliniken können es sich nicht leisten, wegen eines nicht erfolgten Kaiserschnitts verklagt zu werden. Bereits eine verweigerte oder zu spät gesetzte PDA kann dem Ruf einer Geburtsabteilung schaden.
Hier liegt das Dilemma. Oder das Minenfeld, auf dem sich jede Hebamme bewegt, wie Barbara Schwärzler, freiberufliche Hebamme in Zürich, es ausdrückt: «Manche Frauen sind froh, wenn wir sie ermutigen durchzuhalten. Andere finden, wir hätten sie unnötig lang leiden lassen. Es ist unmöglich, es allen recht zu machen.»
Die Erwartungen der Frauen an die Geburt sind gross. Ähnlich gross wie die Erwartungen der Gesellschaft an die Mütter. In unserer Leistungsgesellschaft gehört es dazu, dass wir unser Leben unter Kontrolle haben. «Wir wollen alles beherrschen, auch den Schmerz», sagt Gynäkologin Krähenmann, «entweder auf natürliche Weise oder mit einer PDA. Die Enttäuschung ist vorprogrammiert, wenn es nicht wunschgemäss läuft.» Die Geburtshelferin betont, dass eine Frau keine Schuldgefühle haben solle, wenn ihr Körper nicht so reagiere wie das gerade herrschende Gesellschaftsideal es vorschreibt, wenn sie eher dem Bild der Prinzessin auf der Erbse als dem Fakir entspricht. «Schmerz ist individuell, und jede Frau reagiert anders darauf, das ist eine Tatsache.»
Besonders verletzend, wenn einem andere das Gefühl geben, deswegen eine Mutter zweiter Klasse zu sein, wie dies Andrea D.* erlebt hat. «Mich macht es enorm hässig, dass sich andere Leute den Mund darüber zerreden, wenn eine Frau nicht natürlich gebärt.» Die 41-Jährige hat ihr erstes Kind vaginal geboren. Es war ein «Sternguckerli», schaute mit dem Kopf nach oben und wurde mit der Saugglocke geholt: «Ein Horror! Das Kind wurde aus mir herausgezerrt wie das Kalb aus der Kuh.» Nie wieder wollte sie normal gebären. Und tat es auch nicht. «Wieso auch?», fragt sie, «eine Bypass-Operation macht man auch nicht ohne Narkose.»
Die Frage ist berechtigt. Wieso sollen wir unsere Kinder im Zeitalter von Schlüsselloch-Chirurgie und Wohlfühl-Medizin unter Schmerzen gebären? Wieso wird die PDA, die von der Geburtsmedizin einhellig als die beste Schmerzbekämpfungsmethode unter der Geburt und als nahezu risikolos für das Kind bezeichnet wird, nicht häufiger gemacht? In Frankreich und den USA entscheiden sich 60 Prozent der Gebärenden für die PDA. In der Westschweiz ähnlich viele. In der Deutschschweiz jedoch ist ihr Anteil nur gerade halb so gross. Franziska Krähenmann vermutet, dass hierzulande der Respekt vor medizinischen Eingriffen grösser ist als anderswo. Und auch das Bewusstsein, dass eine gute Spontangeburt viele Vorteile hat. «Je natürlicher geboren wird, desto einfacher ist der Start für Mutter und Kind», sagt die Geburtshelferin. «Die Kinder sind wacher und krabbeln von selbst zum Busen, die Mütter stehen schneller wieder auf.»
Allerdings nur dann, wenn die natürliche Geburt nicht traumatisierend verläuft. Weder für die Mutter noch für das Kind. «Ich habe heute noch Schlafstörungen wegen den Ohnmachtsgefühlen bei der ersten Geburt», sagt Andrea D. «Mein Sohn hat nach der Geburt zwei Stunden nonstop geschrien und war danach ein Schreibaby.» Die Natur ist nicht nur sanft. Das geht gerne vergessen. Oder mit den Worten von Andrea D.: «Frauen sterben seit Menschengedenken an Geburten, und das nicht zu knapp.» Eine Studie unter der Leitung der University of Washington geht davon aus, dass 2008 weltweit 342 000 Frauen beim Gebären gestorben sind. In der Schweiz sind es dank guter Gesundheitsversorgung jährlich nur zwischen drei und acht Frauen.
Kaiserschnitt und PDA sind deshalb für Erica Horat in manchen Situationen ein Segen. Die Hebamme mit über 30-jähriger Berufserfahrung im Universitätsspital Zürich erinnert sich, wie die Frauen, die die Geburtsschmerzen nicht aushielten, in den Vor-PDA-Zeiten litten: «Mit hochdosierten Opiaten wurden sie in eine Art Dämmerzustand versetzt, schrien aber dann bei jeder Wehe trotzdem vor Schmerz.»
Die Geburt wird gerne mit einer Bergtour verglichen. Das Matterhorn zu bezwingen ist aber nicht jedermanns Sache. Muss es auch nicht sein. Andere lassen sich lieber mit dem Heli hochfliegen. Wer es aus eigener Kraft schafft und unverletzt bleibt, wird mit dem berauschenden Hochgefühl des Gipfelstürmens belohnt. Wie es Michelle Beyeler bei ihrer zweiten Geburt erlebt hat: «Ich war extrem euphorisch und glücklich, fast ein Jahr lang.» Wegen ihrer ersten Geburtserfahrung liegt es ihr fern, auf diejenigen hinunter zu schauen, die auf dem Weg zum Gipfel medizinische Hilfe benötigten. Im Gegenteil. «Wenn ich ehrlich bin, dient eine interventionsfreie Geburt vor allem dem eigenen Ehrgeiz und Ego», sagt Beyeler. Dass das Kind lebenslänglich mit einem Manko behaftet sei, wenn es nicht auf natürlichem Weg auf die Welt kommt, habe sie sowieso ie geglaubt.
Allerdings: Eine Mutter, die von Schuldund Minderwertigkeitsgefühlen geplagt ist, kann mit ihrem Baby weniger entspannt und fürsorglich umgehen. Ein Grund mehr, jeder Mutter, egal, wie sie geboren hat, die gleiche Wertschätzung entgegenzubringen.
Geburtsverarbeitung
Hat eine Mutter die Geburt als enttäuschendes oder negatives Ereignis in Erinnerung, kann therapeutische Hilfe entlasten. Adressen auf www.geburt-sbg.ch
**Name der Redaktion bekannt*
Mittel zur Schmerzlinderung
Akupunktur
Feine Nadeln an verschiedenen Körperstellen sollen die Schmerzen lindern und die Wehen regulieren oder verkürzen. Die Wirksamkeit der Methode ist nicht eindeutig nachgewiesen. Ausser der eingeschränkten Bewegungsfreiheit sind keine Nachteile bekannt.
Homöopathie
Homöopathische Mittel in der Geburtshilfe sollen die Frau in der Geburtsarbeit und im Umgang mit dem Schmerz unterstützen und stärken. Nebenwirkungen sind keine bekannt. Die Wirkung ist wissenschaftlich umstritten.
Lachgas
Kurzzeitiges Einatmen von Lachgas über eine Maske. Der schmerzlindernde Effekt tritt nach wenigen Sekunden ein. Schwindel, Übelkeit oder Benommenheit können auftreten, sonst keine erkennbar negativen Auswirkungen auf Mutter und Kind. Wird nur in wenigen Spitälern eingesetzt.
Opiate
Schmerzmittel, häufig Pethidin, wird muskulär injiziert. Wirkung tritt nach 20 Minuten ein und hält 2 bis 4 Stunden an. Nebenwirkungen: Schläfrigkeit, Minderung des Erinnerungsvermögens, Übelkeit; beim Neugeborenen Beeinträchtigung der Atmung. Wird deshalb heute zurückhaltend eingesetzt.
PCA
Bei der PCA (Patienten kontrollierte Analgesie) kann die Schmerzlinderung mittels Pumpe am Handgelenk gesteuert werden. Das dafür verwendete Opiat Remifentanil wirkt sofort, aber nur sehr kurz und beeinträchtigtdas Neugeborene kaum. Die Schmerzlinderung ist mässig bis gut.
PDA
Betäubungsmittel, das durch eine Kanüle in den Periduralraum der Wirbelsäule fliesst, hemmt die Schmerzsignale oder schaltet sie sogar ganz aus. Die Wirkung tritt nach ca. 20 Minuten ein. Nebenwirkungen wie Blutdruckabfall oder Kopfschmerzen nach der Geburt sind möglich. Saugglockengeburten sind mit PDA häufiger, Kaiserschnitte nicht.
Hilfreiche Person
Untersuchungen zeigen, dass Geburten rascher und komplikationsfreier verlaufen, wenn die Hebamme die Gebärende intensiv begleiten und unterstützen kann. Teile dieser Aufgabe kann auch eine Doula übernehmen.
Wasser
Warmes Wasser entspannt. Verschiedene Studien zeigen, dass Frauen, die die Eröffnungsphase in warmem Wasser erleben, deutlich weniger Schmerzen empfinden und weniger häufig eine PDA brauchen.