Ronald McDonald-Haus
Ruheplatz
Manchmal ist ein Haus mehr als ein Daheim. Manchmal ist es ein Unterschlupf mitten im Sturm des Lebens. Das kleine Riegelhäuschen in St. Gallen, 100 Schritte vom Kinderspital entfernt, gehört dazu. Hier trifft man an diesem Mittwochmorgen Menschen am Frühstückstisch, die nicht nur Butter und Brot teilen, sondern ein ähnliches Schicksal: Sie bangen um die Gesundheit, manchmal um das Leben ihres Kindes. Das Ronald McDonald-Haus ist ihnen Herberge in der schwierigen Zeit. Öffnet man die schwere Holztür, betritt man statt blank gebohnerter Spitalgänge alte Holzböden und es riecht nicht nach Desinfektionsmittel, sondern nach Kaffee und frischem Brot.
Am Bettchen ihres Sohnes
Gemeinsam den Morgenkaffee trinken, ein kurzes Gespräch führen oder einfach den eigenen Gedanken nachhängen und in Ruhe essen – das klingt nach Alltag, ist aber ein Luxus im familiären Ausnahmezustand, der eintritt wenn ein kleines Kind ins Spital muss. «Sich einfach nur dazusetzen, ohne etwas vorbereiten zu müssen, geniesse ich sehr», sagt Ute Zeller (35), die meist bis weit nach Mitternacht im gegenüberliegenden Spital sitzt. Am Bettchen ihres Sohnes Armon, der nachts um 23 Uhr erst so richtig wach werden will. Diese Gelegenheit nutzt sie, ihn zu stillen. Wenn sie danach zurückgeht zum Riegelhäuschen, brennt meist irgendwo noch ein Licht. Es gibt noch andere Menschen im Haus, die sich in ihren Betten hin- und herdrehen. Oder den Wänden des Zimmers entlang gehen, weil sie vor lauter
Sorgen keinen Schlaf finden. Ute Zeller ist dann sehr dankbar, dass sie noch Milch ab- pumpen, etwas tun kann für ihr Kind. Besonders schätzt sie, dass sie und ihr Mann Simon (34) das Wochenende gemeinsam im Haus verbringen, zusammen essen können. 50 Meter von Sohn Armon entfernt. Und manchmal, wenn dann auch noch die eigenen Eltern dazukommen, sitzen alle zusammen auf dem Sitzplatz vor dem Haus, und in Ute Zeller steigt das Gefühl von entspannter Normalität auf, nachdem sie sich schon wochenlang sehnt.
Ute Zeller ist nicht die einzige, für die Normalität ein Wort ist, das Glück bedeutet. Da sitzt ein anderes Pärchen am Frühstückstisch, das nur das Allernotwendigste redet. Die beiden wollen niemandem in die Augen schauen. Sie wollen nicht erzählen. Niemand im Haus hat etwas von ihrem Kind erfahren, obwohl sie schon seit eineinhalb Wochen im Haus wohnen. Die junge Mutter macht einen sehr erschöpften Eindruck. Der junge Vater sagt mit verhaltener Stimme: «Es ist unser erstes Kind, es hatte keinen guten Start, es muss sich durchkämpfen. Man darf sich im Leben nie zu sicher sein, in keiner Situation.»
Auch das Baby der Familie Zeller hatte keinen guten Start: Am 29. März 2012 war Ute Zeller am Vormittag noch bei der Arbeit. Sie leitet eine Abteilung in einer Pharmazie- firma. Am Nachmittag ging sie zu einer regulären Schwangerschaftsuntersuchung. Diese offenbarte, dass das neue Leben in Ute Zellers Bauch für sein Alter zu klein ist. Ausserdem hatte sie zu wenig Fruchtwasser. Die Schwangere wurde umgehend ins Spital ein gewiesen. Weitere Untersuchungen und Tage der Ungewissheit folgten. Zwei Wochen nach Spitaleintritt war so wenig Fruchtwasser vorhanden, dass ein dringender Kaiserschnitt durchgeführt werden musste. Viel zu früh kam Armon am 12. April 2012 auf die Welt, 760 Gramm schwer. Dem Frühchen fehlten knapp drei Monate im Mutterleib. Beim Neugeborenenscreening stellte man im linken Auge Unregelmässigkeiten fest. Es folgten Untersuchungen und Arztgespräche, seither plagen die kleine Familie Unsicherheiten. Neben der Angst und der im Spital verbrachten Zeit hat kaum noch etwas Platz in ihrem Leben. Gäbe es nicht das kleine Riegelhäuschen, das Rückzugsort und Bleibe auf Zeit zugleich ist.
Freiwillige Helfer
Das Elternhaus neben dem Ostschweizer Kinderspital wurde 2005 von der Ronald McDonald Kinderstiftung gegründet. Es ist das fünfte von sechs Häusern in der Schweiz. Die anderen stehen in Basel, Bern, St. Gallen, Genf und Bellinzona. Weltweit gibt es mehr als 300 Elternhäuser. Betrieben werden alle von einer Hausleiterin und von Freiwilligen. In St. Gallen helfen 13 Menschen mit, den Eltern von kranken Kindern die schwere Zeit zu erleichtern. Es sind vor allem Rentner, Rentnerinnen und Hausfrauen. Sie waschen die Bett- und Badezimmerwäsche, gestalten den Garten, kümmern sich um Schmuck und Gemütlichkeit im Haus.
Ute Zeller wohnt seit dem 7. Mai im Ronald McDonald Haus St. Gallen. Und sie wünscht sich nichts sehnlicher, als ihr Baby endlich nach Hause zu bringen. Trotz der Wachstumsfortschritte des Frühchens lastet die Angst um Armons Augenlicht wie ein Felsbrocken auf ihren Schultern. Gespräche mit anderen Eltern im Haus helfen weiter: «Die anderen stehen auch im Regen. Manchen ergehts schlimmer als uns, das relativiert die eigenen Probleme», sagt sie.
Gabi Weishaupt, Leiterin des Hauses in St. Gallen, weiss, wie gut Schicksalsgenossen einander tun können: «Die Eltern unterstützen sich gegenseitig, tauschen sich aus, trösten und ermuntern einander.» Manchmal entstehen langjährige Freundschaften zwischen Eltern, welche die gemeinsame Zeit im Riegelhaus lange überdauern. Gabi Weishaupt ist der menschliche Aspekt sehr wichtig: Dass Eltern, die ihre gesamte Energie ihrem Kind schenken, auch mal auftanken und loslassen können. Bevor es das Ronald McDonald Haus St. Gallen gab, verbrachten viele Eltern die Nächte im Spital neben den Bettchen ihrer Kinder auf Klappbetten. So konnten sie zwar nah bei ihrem Kind sein, hatten aber keine Gelegenheit, die eigenen Energiespeicher wieder aufzufüllen. Privatsphäre könne mitten im Spitalbetrieb nicht geschaffen werden. Deshalb sei die Zusammenarbeit zwischen Kinderspital und Elternhaus wichtig, schreibt Dr. Walter Kistler, Chefarzt der kinderchirurgischen Klinik des Ostschweizerischen Kinderspitals St. Gallen im Jahresbericht des Ronald McDonald Hauses St. Gallen. Dass die Nähe der Eltern ihren kranken Kindern bei der Genesung hilft, davon ist der Arzt überzeugt. «Sie vermittelt den Kindern Sicherheit in einer unbekannten Situation und in einer ungewohnten Umgebung.»
Dass die Nähe der Eltern den Heilungsprozess der kleinen Patienten beachtlich beschleunigen kann, haben mehrere Studien bewiesen, so auch eine Untersuchung des Argo Instituts der Universität Groningen in den Niederlanden. Neben Ärzten und Schwestern wurden dafür mehrere Hundert Eltern befragt, die während des Spitalaufenthaltes ihrer Kinder direkt neben den Kinderkliniken wohnten, und deshalb sehr viel Zeit am Bett ihrer kranken Kinder verbringen konnten. Diese wurden um bis zu einen Drittel schneller gesund.
Letzte Formalitäten
Manchmal aber schlägt das Schicksal trotz Unterschlupf unbarmherzig zu: Man sieht der zarten jungen Frau, die in der Küche ihre Siebensachen zusammensucht, an, dass sie daran fast zerbricht. Seit mehreren Wochen wohnt sie im Riegelhaus neben dem Spital, in dem ihr Baby langsam stirbt. «Möchten Sie sich heute nicht zu uns setzen?», fragt Gabi Weishaupt. Die junge Mutter schüttelt den Kopf. «Es ist sehr hart für sie, es ist schlimm», erklärt eine frühstückende Mutter den Gästen. Nun nehmen die Eltern ihr Kind nach Hause, damit es ohne den Lärm und die Gerüche des Spitalbetriebs in den Armen der Eltern sterben kann. Gabi Weishaupt begleitet die junge Mutter für die letzten Formalitäten ins Büro. Zurück bleibt bedrückende Stille.
Später bezeichnet Gabi Weishaupt solche Situationen als die schwierigsten ihrer Arbeit: «Mitanzuschauen, wie Eltern ein Kind verlieren, ist hart. Es geht einem nah.» Sie hält sich am Gedanken fest, dass sie trotzdem helfen kann. Und wenn es nur Momente der Nähe sind, welche die Eltern ihrem Kind in seinen letzten Stunden schenken wollen.
Die Ronald McDonald Kinderstiftung
Das erste Elternhaus der Stiftung wurde 1974 in Philadelphia, USA, eröffnet. Seit 18 Jahren betreibt die Stiftung auch Elternhäuser in der Nachbarschaft von Spezialkliniken in der Schweiz. Mit sechs Häusern ist sie in allen Landesteilen vertreten. 2011 verbrachten 1204 Familien über 10 000 Nächte in einem Ronald McDonald Haus. Die Kosten für einen Aufenthalt betragen pro Tag und Familie 15 Franken.