100 Jahre «wir eltern»
70er-Jahre-Revoluzzer-Geist bis ins Kinderzimmer
Nackte Kinder, blanke Brüste und Experimente mit neuen Wohn- und Erziehungsformen: die 70er-Jahre waren ein wildes Jahrzehnt auch für Familien.
Sex and Love and Rock’n’Roll scheinen die 1970er zu umspülen wie Badewasser die Schwimmente. Auch «wir eltern» tut sein Bestes, die Verdruckst- und Verklemmtheit der 1960er hinter sich zu lassen, Muff und Staub abzuschütteln und Tacheles zu reden. Zumindest ein bisschen.
So startet die Redaktion etwa 1974 beherzt eine Umfrage bei der Leserschaft rund ums Thema Bezeichnung von Geschlechtsteilen und deren Anwendungsmöglichkeiten. Das Ergebnis ist im Januarheft 1975 zu lesen: «Pümper, Pimpel, Zipfel-Zapfel oder Papi-Bisi fürs männliche Genital, Gilli, Tittli, Vorderfudi oder Mami-Bisi für das weibliche Genital» sind beliebt. Genauso wie «Bügeln, Pudern oder Vögeln» für «Geschlechtsverkehr ausüben».
Zufrieden sind die Kolleg* innen von damals allerdings ganz und gar nicht mit der «verschleiernden Sexualsprache», sondern sie empfehlen den Eltern, die «sachlich richtigen Ausdrücke preiszugeben». Obendrüber als Bebilderung: das Foto zweier füdliblutter Kinder beim interessierten Körperabgleich. Hosen, Balken oder Verpixelung wie heute? Fehlanzeige. Zumal letztere sowieso noch nicht erfunden war. Auch im Februarheft heisst es gleich fett gedruckt: «Onanie und Petting sind keine Tabus mehr. Man darf diese Handlungen nicht verteufeln.» Sex und Haut, wohin man liest…
Endlich: Frauenwahlrecht
Die Menschen der 70er scheinen locker drauf gewesen zu sein: freie Liebe, freie Brüste, freie Kinder. Rudel-Schmusen gegen Reaktionäres, kopulieren gegen das Kapital. Haarschnitte kennen keine Gendergrenzen mehr. Mit David Bowies Kunstfigur «Ziggy Stardust» entsteht der erste weltweit bekannte Prototyp des Männlein-Weiblein-völlig-egal. Loriot denkt sich «Dickie Hoppenstedt» aus und dessen coolen Opa, dem es völlig schnurz ist, ob Dickie nun ein «Zipfelchen» oder «kein Zipfelchen» hat. Sein «Enkelkind hat alles, was es braucht». Jahrzehnte bevor es das Wort «divers» in den Mainstream schafft. Und nicht zu vergessen: 1971 der Meilenstein in der Geschlechterdebatte – endlich, endlich auch hierzulande: das Frauenwahlrecht. Emanzipation, Mission completed.
Nur – stimmt das überhaupt so? War die viel besungene sexuelle Revolution nach ‘68 wirklich eine Revolution für alle? Das ganze folgende Jahrzehnt eine einzige hedonistisch-wilde Make-Love-not-War-Party? Beneidenswert fortschrittlich im Vergleich zu heute? Bedeutet die Gegenwart eine Rolle rückwärts in die Prüderie? Nun – das ist schwierig zu sagen. Wie oft bei Revolutionen. Gibt es dabei doch stets Gewinner und Verlierer, Extremisten, Mitläufer, Rückschläge und stumm in der Tasche geballte Fäuste. Kurz: Es ist verzwickt.
«Oszillierend», nennt Lukas Geiser, Dozent für Sexualpädagogik an der PH Zürich, die Ära. «Zweifellos sind die 70er-Jahre ein spannendes Jahrzehnt was Sexualität, Aufklärung und Gleichstellung anbelangt. Doch ob man damals – trotz aller unbestrittenen Fortschrittlichkeit – wirklich weiter war als heute, da würde ich doch ein Fragezeichen machen. Es ist vielschichtiger; aber ein Aufbruchs- und Umbruchjahrzehnt war es sicher.»
«wir eltern» ist beim «Aufbruch» ganz vorne mit dabei und schreibt, wie sich das für guten Journalismus gehört, über all das Neue, was in diesen zehn Jahren die Gemüter bewegt. Im April 1972, passend zum Fall des Konkubinatsverbots, erscheint unter dem Titel «Die Grossfamilie – Zeiterscheinung oder Alternative» ein Artikel über die erste Zürcher Kommune. Ebenfalls ’72: ein Text über studentische Mütter. 1976 wirbt die Verhütungszäpfchen-Firma «Patentext Oval» im Heft mit dem Slogan «Empfängnisverhütung ist heute Sache der Frau. Weil sie sich nicht allein auf ihren Partner verlassen sollte». Empowerment der ersten Stunde; die moderne Frau sorgt von nun an eigenständig und unabhängig vom Mann dafür, dass sich keine unerwünschte Schwangerschaft einstellt. Dass das Pendel wenige Jahre später in die andere Richtung ausschlagen würde, sich die Frauen verdrossen fragen würden, wieso eigentlich die ganze Verhütung samt Nebenwirkungen meist an ihnen hängen bleibt, war im euphorischen Jahrzehnt nach Erfindung von Pille & Co. schwer vorstellbar.
Ja, und dann greift natürlich auch bei «wir eltern» der übliche «Mann beisst Hund»-Effekt der Medien. Über das knallig Ausgefallene, das Besondere und Seltene wird berichtet, über den blässlichen Alltag nicht. Klar, dass so Wahrnehmungsverzerrungen entstehen, dass angeblich «alle» tun, was «man» so tut. «Die Schweiz war und ist nämlich generell eher konservativ», sagt Lukas Geiser. «Vielleicht liegt das an der protestantisch-zwinglianischen Prägung.»
Vermutlich war in hundsnormalen Familien selbst in den wilden 70ern häufiger das Tischgebet im Esszimmer zu hören als der Slogan «Wer zwei Mal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment». Als 1972 erste mutige Lehrer* innen in den Schulen Aufklärungsunterricht erteilen, schaffen sie es damit sogar bis in die Nachrichten, wie der Film «Mit Kinderaugen» aus dem SRF-Archiv zeigt. «Die Sendung ist in Sachen vermeintlicher Libertinage aufschlussreich und – entlarvend», findet Lukas Geiser, «Zwar wurde damals vielerorts begonnen, Kinder im Unterricht aufzuklären – Buben und Maitli allerdings durchaus nicht in gleicher Weise.» Die Jungs erfahren, beachtlich locker, dass Selbstbefriedigung nun doch nicht gleich ihr Rückenmark pulverisiert, wie ihnen bis dahin schon mal gerne gedroht wurde. Die Mädchen dagegen lernen streng sachlich-biologisch, dass sie ihre Menstruation bekommen. Lust, Onanie, Orgasmus bei weiblichen Wesen? Das schien denn doch zu viel des Guten. Drei Jahre später geht «wir eltern» schon einen Schritt weiter.
Offenbar ist inzwischen in der Allgemeinheit angekommen, dass das, was Mädchen abends heimlich unter der Bettdecke tun, nicht immer Lesen ist. Im Februar 1975 heisst es zum Thema Selbstbefriedigung: «Bei den Vierzehnjährigen sind es 82 Prozent der Knaben und 49 Prozent der Mädchen. Während bei den letzteren der Prozentsatz nun kaum noch ansteigt, praktizieren mit sechzehn Jahren angeblich 93 Prozent der Jünglinge Masturbation.» Zack. Raus mit der Wahrheit. Im Kielwasser des amerikanischen Kinsey-Reports sind Schlafzimmer-Statistiken jetzt auch in Europa das grosse Ding. Fakten statt Moral, heisst das Gebot der Stunde. Überhaupt durchlebt der Sex einen Imagewandel von der «ehelichen Pflicht» der 60er zu «Joy of Sex» (Bestseller 1972) für alle. Nur für Erwachsene? War gestern. So steht 1975 im «wir eltern»: «Während Schüler und Schülerinnen früherer Generationen bei intimen Kontakten weitgehend Angst und Scheu empfanden, zeigen heutige Jugendliche kaum noch Skrupel, es auch zu tun. Ein achtzehnjähriger Coiffeurstift: ‹Ein unheimlicher Plausch!›»
Ja, in den 70ern schienen alle Türen aufzugehen. Die Schlafzimmertüren der Kommunen samt Bluse von Freie-Liebe-Ikone Uschi Obermaier. Die Bürotüren von Vätern, die jetzt als «neue Papas» Kinder wickeln. Und die Schultüren der Handarbeitszimmer, hinter denen die Mädchen immer lauter meutern, wieso nur sie allein dort sticken und stricken sollen. Alles getaucht in die Modefarben braun-gelb-orange für jeden und jede. Der Regenbogen der 70er. Und dann, zehn Jahre später, kommt Aids, kommt durch Sex der Tod. Kommen Missbrauchsskandale in Kirchen, Sportvereinen, Familien ans Licht und harte Pornofilme ins Netz. Auch strafbare.
Vom Dürfen zum Müssen
In den 80ern verliert der Sex seine Unschuld. Türen werden wieder geschlossen und einige davon zurecht gut verriegelt. «Deshalb finde ich nicht, dass man nur von einem Backlash, einem Rückfall in die Prüderie sprechen kann», betont Lukas Geiser. Sicher, es sei eine merkwürdige Volte, dass heutzutage Kinderkleider sich in «mit Einhorn in Pink» oder «mit Dino in Blau» separieren lassen und Süsswarenfirmen Schokoladen-Überraschungseier extra für Mädchen und welche extra für Jungs anbieten. Auch der Wind, der schulischer Aufklärung aus konservativer Ecke seit einigen Jahren entgegenbläst, ist wieder zur steifen Brise aufgefrischt. «Und doch sind wir in einigen Punkten sehr viel weiter: etwa, was Schutz von Kindern vor Übergriffen oder die Stellung der Frau anbelangt. Ein Fortschritt ist auch», so Geiser, «dass heute problematisiert wird, ob Sex in allen Spielarten haben zu ‹dürfen› inzwischen zu einem Sex in allen Spielarten haben zu ‹müssen› gekippt ist.»
Fortschritt oder Rückschritt, Wandel, Volten und Wellen – trotz allem bleibt manches auf ewig gleich. Die schwurbelig schöne Unsicherheit der ersten Liebe mit all ihren Fragen. Die Suche nach den richtigen Worten. Die Tatsache, dass die bucklige Cousine der Freiheit zwar zuweilen Geschmacklosigkeit heisst. Aber beide nun mal halt zur Familie gehören. Das war bei «Unterm Dirndli wird gejodelt» (1973) so, das ist beim Wiesenhit «Layla» (2022) so.
Völlig unverändert geblieben ist auch die Freude an Blumengestecken. Und jeder kann einarbeiten, was er will.
Caren Battaglia hat Germanistik, Pädagogik und Publizistik studiert. Und genau das interessiert sie bis heute: Literatur, Geschichten, wie Menschen und Gesellschaften funktionieren – und wie man am besten davon erzählt. Für «wir eltern» schreibt sie über Partnerschaft und Patchwork, Bildung, Bindung, Erziehung, Erziehungsversuche und alles andere, was mit Familie zu tun hat. Mit ihrer eigenen lebt sie in der Nähe von Zürich.