
Markus Bertschi
Glutenunverträglichkeit
Charlottes Leben mit Zöliakie
Charlotte litt unter häufigen Bauchschmerzen, wuchs wenig und hatte oft Wutausbrüche. Heute weiss die Familie: Charlotte hat Zöliakie.
Charlotte googelt auf ihrem Computer und zeigt mir eine Liste von Lebensmitteln. Die langen blonden Locken fallen ihr dabei ins Gesicht. Sie liest laut vor: « Gluten, Weizen, Gerste, Roggen, Hafer, Seitan. » « Seitan ?», unterbreche ich sie. «Ja, natürlich Seitan. Das ist reines Weizengluten und ist für uns Menschen mit Zöliakie Gift », antwortet die Neunjährige bestimmt. 15 «böse» Zutaten sind auf ihrer Liste. In der Schweiz ist ungefähr eine von hundert Personen von der Autoimmunerkrankung betroffen. Gluten, das Klebereiweiss in den verschiedenen Getreidesorten, führt bei Betroffenen zu einer Schädigung der Dünndarmschleimhaut. Die einzige Therapie ist die glutenfreie Ernährung. Was so einfach klingt, ist am Anfang anspruchsvoll: Eine glutenfreie Küche bedeutet nämlich nicht nur glutenfreie Lebensmittel, sondern auch glutenfreies Geschirr, Küchenmaschinen oder Backbleche zu benutzen. Ich kenne Charlottes Mutter schon länger, wir waren schon gemeinsam in den Ferien. Wo mir ein typischer Anfängerinnen-Fehler passierte: Ich benutze die gleiche Rührkehle für die weizenhaltigen und glutenfreien Spaghetti. Diese wurden dadurch für das Mädchen ungeniessbar.
Viele Menschen haben keine Ahnung
Charlotte zählt derweil weiter die No-Gos auf: «Dinkel, Grünkern, Einkorn, Kamut, Bulgur, Emmer, Triticale, Weizeneiweiss, Weizenkleber. Am liebsten esse ich glutenfreien Chia-Toast oder Silserbrötli und Zopf. Oder glutenfreie Chicken-Nuggets mit Reis oder Pommes.» Sie erklärt mir, in welchen Supermärkten sie ihre liebsten Artikel erhält. Ich frage sie, ob sie gerne mit mir über ihre Zöliakie spreche. Charlotte antwortet, ohne zu zögern: «Ich finde es total cool, dass ein Magazin über meine Ernährung schreibt. So viele Menschen haben doch keine Ahnung und auch in der Schule muss ich immer wieder dasselbe erklären.»
Unser Gespräch wird von ihrer fünfjährigen Schwester Morven und einem Nachbarsjungen im gleichen Alter unterbrochen. Die Mutter schickt die beiden Kleinen ins Wohnzimmer und setzt sich zwischen die Spielsachen auf den Boden. Die 42-jährige Bündnerin arbeitet 80 Prozent als Gewerkschafterin. Die Hälfte der Woche verbringen die Mädchen bei ihrem Vater, der um die Ecke wohnt. Sie erzählt, wie es zur Diagnose kam. Charlotte sei damals vier Jahre alt gewesen und habe andauernd über Bauchschmerzen geklagt. Die Tochter sei zudem extrem unkonzentriert gewesen und habe oft unerklärbare Wutausbrüche gehabt. Auch war sie sehr blass und wuchs kaum. Mehrmals suchten sie Ärztinnen auf: «Die Besuche bei der Kinderärztin und die Behandlung mit einer Wurmkur und gegen eine Blasenentzündung haben keine oder nur kurze Besserung gebracht. Eine befreundete Ärztin hat dann nach einem gemeinsamen Spaghetti-Essen und einem Bauchweh-Schub von Charlotte die Zöliakie erwähnt. So kamen wir auf den Verdacht.»
Wachstumsstörungen sind häufig
Die Kinderendokrinologin Stefanie Wildi-Runge der Facharztpraxis Endokrinologie, Diabetes und Sportmedizin in Dübendorf erklärt: «Bei Zöliakie verlieren viele Kinder an Gewicht und können Nährstoffe und Vitamine nicht mehr richtig aufnehmen. Um das Wachstum genauer abzuklären, röntgen wir die linke Hand und nehmen die Knochenreife unter die Lupe. Denn die Zöliakie ist ein Chamäleon. Symptome kommen und gehen oder treten zum Teil gar nie auf. Nur wenige Patient : innen zeigen daher ein Vollbild, 80 bis 90 Prozent haben untypische Symptome. Dadurch bleibt die Zöliakie nicht selten oft lange unentdeckt und wird erst wegen Wachstumsstörungen Thema.» Klarheit gebe ein Bluttest, in dem nach bestimmten Antikörpern gesucht wird oder eine Dünndarmbiopsie. Nach ein paar Abklärungen war der Befund bei Charlotte klar. Kaum liessen sie nur schon den Weizen weg, minderten sich die Symptome.
• Typische Symptome bei Kindern: Durchfall, stark riechender Stuhlgang, Blähbauch, Bauchschmerzen, Gewichtsverlust, Wachstumsstill oder -rückstand, eine verzögerte Pubertät, Blässe und Übelkeit.
• Bei Erwachsenen können auch ein Eisen- oder Vitamin D-Mangel, Gelenkschmerzen oder starke Erschöpfung Hinweise sein.
• Auch Konzentrationsbeschwerden, psychische Auffälligkeiten oder Entzündungen sind Symptome.
• Ein bis zwei Prozent der Bevölkerung sind betroffen. Die Dunkelziffer ist jedoch sehr gross.
• Häufig erhalten Kinder die Diagnose, weil sie in Vorsorgeuntersuchungen auffallen. Viele Betroffene erhalten die Diagnose aber immer noch erst im Erwachsenenalter.
• Langzeitschäden von Zöliakie können Wachstumsstörungen oder Blutgerinnungsstörungen, sowie bei Frauen Fertilitätsstörungen sein. Auch ein erhöhtes Risiko, später an an Lymphdrüsenkrebs, Osteoporose oder DiabetesTypI zu erkranken, besteht.
• Kinderbuch zum Thema: Abigail Rayner, Molly Ruttan: «Lotta und die Krümel. Eine glutenfreie Geschichte», NordSüd-Verlag, Fr.22.–, ab 4 Jahren.
• Infos und Anlaufstellen
zöliakie.ch
zoeliakie-ernaehrungsberatung.ch

Schuldgefühle nach der Diagnose
«Natürlich hatte ich nach der Diagnose Schuldgefühle. Ab und an unterstellte ich Charlotte im Stress und der Hilflosigkeit, wehleidig zu sein – das tut mir heute noch leid.» Elisabeth streicht sich über die Arme und zieht ihre Wolljacke über die Schulter. «Das Absurde ist ja, dass wir Kinder bei Bauchschmerzen und Erbrechen mit Hausmittel behandeln, die bei Zöliakie alles verschlimmern: Zwieback, Salzstangen oder Knäckebrot.» Charlotte wippt auf ihrem Drehstuhl auf und ab und wirft ein: «Meine Mama war so hässig nach der Diagnose, dass sie meinem Papi sagte: Mach endlich ein Buch, damit man mehr über Zöliakie weiss !» Wir lachen und wechseln in die Küche. Elisabeth hat glutenfreien Teig gemacht. Jetzt werden die gebackenen Kekse angemalt und verziert. Natürlich mit einem Pinsel, der nie für Gluten benutzt wird.
Elisabeth ist es wichtig, ihre Mädchen zu Selbstbestimmung und Selbstständigkeit zu erziehen: «Charlotte soll möglichst viel eigenes Wissen aufbauen», sagt sie, «es gibt aber Situationen, in denen wir Eltern uns für sie starkmachen müssen, zum Beispiel im Restaurant.» Noch immer fehle vielen ServiceAngestellten das Wissen über Zöliakie. Oder die Küchen böten zwar ein glutenfreies Menu an, frittierten die Pommes aber im gleichen Öl wie die weizenhaltigen ChickenNuggets. Daher plant sie Restaurantbesuche und ruft vorher an. «Ich habe auch schon einen Toaster und Brötchen zu McDonalds mitgenommen, damit Charlotte einen glutenfreien Hamburger essen konnte.»
Charlottes Vater Andrew ist Co-Verleger des Schweizer Kinderbuch-Verlages «NordSüd» und folgte dem Aufruf von Elisabeth. Im Jahr 2022 erschien das Kinderbuch « Lotta und die Krümel. Eine glutenfreie Geschichte ».
Andrew und ich sprechen online miteinander. Durch die Diagnose blickt er heute anders auf Verwandte: «Die Krankheit ist oft genetisch bedingt und daher erblich. Wurde früher aber kaum diagnostiziert. Familienmitglieder, die als grantig galten und früh starben, könnten auch von Zöliakie betroffen gewesen sein», erzählt er. Für Andrew war die Diagnose eine Erleichterung: «Endlich wurde klar, dass eine Krankheit und nicht unsere Erziehung schuld ist an den Symptomen.» Andrew und Elisabeth informierten sich nach dem Befund stundenlang im Netz, in Online-Foren tauschten sich mit anderen Betroffenen und Angehörigen aus und lernten viel. «Wir können alle davon ausgehen, dass mindestens zwei Betroffene in unserem Umfeld mit Zöliakie leben», erklärt Andrew, «es gibt auch kein Spektrum von Zöliakie: entweder man hat es, oder man hat es nicht. »
Ronia Schiftan, Ernährungspsychologin

ADHS und Zöliakie
Ronia Schiftan ist Ernährungspsychologin und im Vorstand von IG Zöliakie tätig. Sie erklärt mir, dass die Darmgesundheit die Psyche stark beeinflusst. Gewisse Kinder, deren Zöliakie noch unentdeckt ist, können depressive oder ängstliche Symptome zeigen oder haben Mühe mit der Emotionsregulation: «Manche Patienten sind seit Jahren wegen psychischer Probleme in Behandlung, die Ursache könnte aber auch ihre Zöliakie sein.» Denn es gebe einen Zusammenhang zwischen der Aufmerksamkeits-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS), Depressionen, Angststörung und Zöliakie, die Gründe dafür seien in der Forschung noch nicht eindeutig geklärt. Ronia Schiftan ist selbst betroffen von Zöliakie und setzt sich auch für die Prävention von Essstörungen ein: «Es besteht die Gefahr, dass Kinder, die glutenfrei essen müssen, einen Hyperfokus auf das Essen entwickeln. Ich arbeite meistens mit den Eltern, damit das Kind möglichst viel Normalität erleben kann.»
Enttäuscht ist die Psychologin von der Schweizer Politik: « In der Schweiz werden sehr wenig Gelder in Gesundheitsprävention und -förderung investiert. Es bräuchte zum Beispiel eine Kampagne zu Zöliakie, damit mehr Menschen ihre Krankheit erkennen.» 75 Prozent der betroffenen Menschen wüssten nichts von ihrer Erkrankung. Es fehle an Geld, Aufklärung und auch an Unterstützungsmassnahmen für die Betroffenen. « Da muss die Politik handeln», fordert Schiftan. Mittlerweile ist der ganze Tisch voller Guetzli, ich darf probieren: «Ein bisschen zu süss vielleicht ?», frage ich Charlotte. «Nein ! Ich mag Süsses sehr », sagt sie und platziert eine pinke Zuckerperle auf dem Lila-Zuckerguss. Ob Elisabeth als politischer Mensch auch Forderungen habe bezüglich der Krankheit ihrer Tochter, frage ich sie : « Glutenfreie Lebensmittel sind mindestens doppelt so teuer wie konventionelle, die IV-Gelder dafür wurden jedoch seit letztem Jahr gestrichen. Es braucht zudem endlich eine Deklarationspflicht von Inhaltsstoffen in Restaurants und geschulte GastronomieMitarbeitende.» Sie findet, die Schule zeige, wie es funktioniert: « Sie nehmen Charlotte sehr ernst und halten alle Regeln in der Küche ein. Elisabeth und ich trinken noch einen Kaffee, dann verabschiede ich mich. «Moment ! », ruft Charlotte mir zu, « nimm zwei Kekse mit.» Sie strahlt übers ganze Gesicht.