LKG-Spalte
Perfekt trotz Fehlbildung
Ein Wechselbad der Gefühle, von der ersten Lebensminute an: Die Geburt verlief normal und unauffällig. Isabella Weidmann (38) hatte eine PDA erhalten und ertrug nun die Schmerzen wieder gut. Noch einmal, zweimal pressen und der Vater würde die Nabelschnur durchschneiden können. Doch jetzt sagte der Arzt: «Das Baby hat die Nabelschnur mehrfach um den Hals gewickelt, ich werde selber schneiden müssen.» Isabella Weidmann presste, das Kind rutschte heraus. Als sie sah, wie sich Arzt und Hebamme bedeutungsvoll anschauten und das Neugeborene in den angrenzenden Raum brachten, lähmte sie die Angst. «Ich hatte nur einen Gedanken: Was, wenn Nuria nicht atmet?», erinnert sich die Mutter. Nach fünf endlos langen Minuten rief sie: «Was ist los mit meinem Kind?» Schliesslich kam der Arzt zurück, ohne Baby. Er erklärte, es gehe Nuria tipptopp, er wolle bloss verhindern, dass die Eltern zu fest erschrecken. Das Baby habe eine Lippen-Kiefer-Gaumenspalte. «Endlich brachte er uns Nuria. Es war egal, dass sie nicht perfekt war. Wir waren einfach glücklich, dass sie lebte», erinnert sich Isabella Weidmann.
Erhalten Eltern die Diagnose Lippen-Kiefer-Gaumenspalte, ahnen sie kaum, was auf sie und das Kind zukommt. Das Gute: Eine LKG-Spalte verursacht dem Neugeborenen keine Schmerzen. Lippe, Kiefer und Gaumen sind vollständig vorhanden, allerdings nicht zusammengewachsen. Die Spalte kann operativ geschlossen werden – wie ein Strickfehler, der korrigiert wird. Wichtig zu wissen: Die intellektuellen Fähigkeiten sind durch eine LKG-Spalte nicht beeinträchtigt. Das Schwierige: Die Fehlbildung ist nicht zu übersehen, sie ist mitten im Gesicht. Mit einer Gaumenspalte kann das Baby nicht normal trinken. Eine oder mehrere Operationen und regelmässige Kontrollen sind nötig.
Gaumenplatte und Haberman-Sauger
Zwei bis drei Stunden nach der Geburt fuhren Nuria und ihre Eltern vom Sanitas-Spital in Kilchberg ins Universitätsspital Zürich. Ein erneuter Schock für die junge Mutter: Mehrere Leute beugten sich auf der Neonatologie über ihr Neugeborenes. Ein Gaumenabdruck wurde gemacht, eine Magensonde gelegt – Nuria schrie, was ihre kleinen Lungen hergaben. «Es war schrecklich, unser Baby so leiden zu sehen.» Dank der Gaumenplatte, die Nuria am nächsten Tag erhielt, konnte sie trinken. Nicht von der Brust, aber immerhin mit dem Schoppen; es dauerte jedoch gut zwei Wochen, bis es richtig klappte und Mutter und Kind nach Hause durften. Eine grosse Hilfe sei der Haberman-Sauger gewesen, der extra für Kinder mit LKG-Spalte entwickelt wurde.
In dieser Zeit hatte sich Nurias Vater im Internet intensiv über die Besonderheit seiner kleinen Tochter informiert und sich mit den unterschiedlichen Behandlungskonzepten der verschiedenen Spitäler auseinandergesetzt. Bei seinen Spitalbesuchen erklärte er immer wieder: «Ich bin sicher, dass es gut kommt. Unser Kind wird stark.» Zusammen entschieden die Eltern, dass sie Nuria nicht in Zürich, sondern im LKG-Zentrum des Universitätsspitals Basel operieren lassen wollten.
Wo operieren?
Jedes Jahr kommen in der Schweiz 100 bis 120 Kinder mit einer Spaltbildung aus dem Formenkreis der Lippen-Kiefer-Gaumenspalte auf die Welt. In den meisten Fällen handelt es sich um eine örtlich begrenzte Fehlbildung der Lippen, des Kiefers, des Gaumens oder mehrerer dieser Bereiche; die Spalte kann sowohl ein- als auch doppelseitig sein. Wegen der Seltenheit der Fälle haben Geburtskliniken oftmals kaum Erfahrung im Umgang mit diesen Neugeborenen. Sie kommen deshalb sofort auf die Neonatologie, wo sie eine Magensonde erhalten. «Bei kompetenter Erstversorgung ist dies nicht nötig», sagt Katja Schwenzer-Zimmerer, Leiterin des interdisziplinären Kompetenzzentrums für Lippen-Kiefer-Gaumenspalten des Universitätsspitals Basel. «Das Betreuungsteam muss allerdings wissen, wie bei Neugeborenen mit Gaumenspalten verhindert werden kann, dass die Zunge den Rachen verschliesst und Erstickungsgefahr droht.»
Wichtig ist, nach der Geburt ein erfahrenes Behandlungszentrum aufzusuchen – einerseits wegen der geringen Fallzahlen: Es ist von Vorteil, wenn der chirurgische Eingriff von geübten Händen vorgenommen wird, schliesslich wird mitten im winzigen Baby-Gesichtlein operiert. Anderseits, so Katja Schwenzer, «ist die Behandlung Zentrumsarbeit und keine Ein-Personen-Show.» Ausschlaggebend ist, dass sich ein interdisziplinäres Team bestehend aus Kiefer- und Gesichtschirurgie, Kieferorthopädie, Logopädie, Phoniatrie sowie Still- und Ernährungsberatung in den nächsten Jahren um das Kind kümmert, Termine koordiniert, allfällige Begleitprobleme wie vermindertes Gehör rechtzeitig erkennt und die nötigen Therapien aufeinander abstimmt. Je besser dies funktioniert, desto einfacher für die Familie und desto höher die Behandlungsqualität.
Angestarrt werden
Die Eltern waren froh, dass Nuria bereits drei Monate nach ihrer Geburt im August 2006 operiert wurde. Bald würde die Fehlbildung nicht mehr alle Blicke auf sich ziehen. «Egal, wo man hinkommt, ob beim Einkaufen oder auf dem Spaziergang, alle starren auf die Spalte oder schauen betupft weg», erzählt die Mutter. «Man will das Kind vor diesen Blicken schützen.» Isabella Weidmann verurteilt die Reaktionen der Leute nicht. Dank Nuria habe sie etwas gelernt, das für sie vorher auch nicht selbstverständlich gewesen sei: Eine Person mit einer äusserlichen Auffälligkeit unbefangen anschauen, sie grüssen, ihr ganz natürlich ins Gesicht lachen. Vielleicht gar nach der Ursache fragen. «Am liebsten waren mir diejenigen Leute, die ohne Umschweife fragten, was Nuria hat.»
Die ersten Stunden nach der Operation seien happig gewesen, erinnert sich Isabella Weidmann – Nurias Mundregion war geschwollen, sie atmete schwer, trinken gestaltete sich wieder schwierig. Nach vier Tagen durfte sie bereits nach Hause, zwei Wochen später lag das Schlimmste hinter der Familie. Sechs Monate nach dem Eingriff war alles verheilt. Bald begann das Mädchen zu sprechen. Ein paar Logopädiestunden halfen ihr, die Zunge richtig zu positionieren, sodass sie keine Sprechprobleme hat. Im Moment trägt sie eine Spange, um die Zahnstellung zu verbessern. Ob kosmetische Operationen wie eine Korrektur der Nase nötig werden, kann erst gesagt werden, wenn Nuria ausgewachsen ist. Spricht sie heute in der Schule oder auf dem Spielplatz jemand auf die Narben an ihrer Oberlippe an, sagt Nuria: «Bei mir ist etwas nicht von selber zusammengewachsen, deshalb wurde ich operiert, als ich ganz klein war.» Es kann aber auch sein, dass Nuria sagt, sie möge gerade nicht darüber reden. Das ist ihr gutes Recht.
«Wir erklären Nuria, dass viele Menschen etwas Spezielles haben. Seis nun eine Narbe, abstehende Ohren, eine chronische Krankheit oder rote Haare. Das macht sie aussergewöhnlich», sagt Isabella Weidmann. Ein offener und direkter Umgang mit der Fehlbildung hilft den Betroffenen am meisten. Das zeigt ein Beitrag eines Jugendlichen auf der Internetseite der Vereinigung der Eltern von Spaltkindern: «Wenn Sie den anderen Eltern etwas weitergeben wollen, so sagen Sie ihnen, sie sollen die Kinder gut begleiten, ihnen alles genau erklären, sie viel in den Arm nehmen und mit ihnen lustig sein.» Keine Berührungsängste helfen auch in der Schule: «Zum Glück hatte ich eine nette Lehrerin. Die gab der Sache einen Namen, sprach eine ganze Stunde lang mit den Kindern und mir über LKG und erklärte, was es ist. Ich durfte auch Fotos mitbringen. Von da an hatte ich in der Schule eigentlich keine Probleme mehr.»
1/3 Gene, 2/3 Schicksal
Vor einem halben Jahr hat Nuria einen kleinen Bruder bekommen. Die Eltern erfuhren dieses Mal bereits beim grossen Ultraschall, der zwischen der 18. und 20. Woche gemacht wird, dass auch Leandro eine Spalte haben wird. «Meine erste Reaktion war: Muss das sein? Was habe ich bloss falsch gemacht?», sagt die Mutter. Warum es in der Frühschwangerschaft zu einer solchen Entwicklungsstörung kommt, ist bis heute in den allermeisten Fällen nicht klar. «Zu einem Drittel sind die Gene dafür verantwortlich, zu zwei Dritteln ist es das Schicksal», sagt Katja Schwenzer. Tun kann man in der Schwangerschaft nichts. Ausser sich psychisch darauf vorbereiten. Bis zur Geburt war nicht klar, ob Leandro wie Nuria eine komplette Spalte oder vielleicht doch nur eine Lippenspalte haben würde. «Das war belastend. Es ging rauf und runter mit den Gefühlen», sagt Isabella Weidmann. Als die Eltern Nuria kurz vor der Geburt von der Diagnose erzählten, reagierte die 8-Jährige gelassen: «Das ist nicht schlimm, das kann man operieren», sagte sie. Die Erleichterung: Leandro hatte nur eine einseitige Lippenspalte. Anfang Jahr wurde sie bereits verschlossen – ein vergleichsweise kleiner Eingriff, der nur wenige Nachkontrollen erfordert. Isabella Weidmann: «Die Spalte wird Nuria und Leandro ihr Leben lang verbinden. Ein schöner Gedanke!»
Operation: In einem oder in mehreren Schritten?
Bezüglich der Operationstechnik bei LKG-Spalten gibt es grosse Unterschiede. Zwar ist sich die Mehrheit der Experten einig, dass ein früher Spaltverschluss wünschenswert und für die ungestörte Sprachentwicklung nötig ist.
Am Kinderspital Zürich beispielsweise werden Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten jedoch schrittweise verschlossen, um Wachstumsvorgänge nicht durch Narben ungünstig zu beeinflussen: Rund sechs Monate nach der Geburt beginnt man mit der Lippe, mit 18 Monaten wird der weiche Gaumen operiert, mit vier bis fünf Jahren der harte Gaumen, ab 10 Jahren eine allfällige Kieferspalte aufgefüllt.
Anders in Basel. Zu Beginn der 80er-Jahre entwickelte LKG-Spezialist Klaus Honigmann gleichzeitig mit anderen Kollegen an verschiedenen Standorten weltweit den sogenannt «einzeitigen» Spaltverschluss. Dieser hat den Vorteil, dass das Kind nur einmal operiert werden muss, und zwar mit rund drei Monaten. Das Kind verfügt danach über eine normale Mundanatomie, kann also normal essen und sprechen lernen. «Wir blicken auf 20 Jahre Erfahrung zurück und hatten in dieser Zeit keine Komplikationen wegen des einzeitigen Spaltverschlusses», sagt Katja Schwenzer, Nachfolgerin von Honigmann in Basel, «Voraussetzung ist, dass die Operationstechnik perfekt beherrscht wird.»