Verwitwete Eltern
Papa ist im Himmel
Überall sind Smileys. Die gelben Gesichter bevölkern jeden Raum im Reiheneinfamilienhäuschen am Maienweg 11 in Seon AG. Sie lachen von Vorhängen, Zahnbechern, Bettdecken, sie zwinkern aus Stube, Küche und Badezimmer. Fröhlichkeit als Lebenselixier.
Yvonne Omlin (36) lächelt. Sie kennt die Irritation in den Augen der Besucher. «Das Smiley war das Profilbild von Othmar auf Facebook », sagt sie und streichelt mit der Hand über ihren sonnengelben Pullover. Othmar, Yvonnes Mann und der Vater von Ariane (7) und Matteo (4), ist tot.
«Bitte, lieber Gott»
Das Unglück kam am Dienstag, 27. September 2011. Othmar (35), grossgewachsen, grüngraue Augen, hat arbeitsfrei. Und Arbeitslust für zwei. Deshalb will er den Keller entrümpeln.
«Willst du das Hühnergeschirr behalten?», ruft er Yvonne um 9.50 Uhr die Treppe hoch zu. Sie ist unentschlossen. «Ja!», ruft sie zurück. «Oder – nein, doch lieber nicht!»
«Ihr Weiber wieder!», tönt es lachend zurück. Ein liebevolles Geplänkel, wie so oft.
Zehn Minuten später fehlt das Echo. Othmar?! Yvonne ruft, zweimal, dreimal. Er antwortet nicht. Sie stutzt, steigt die Treppe hinunter, erstarrt. Othmar liegt in der Waschküche in Erbrochenem. «Helft uns»!, beschwört Yvonne die Rufnummer 144. Der Nachbar beatmet Othmar, bis der Krankenwagen eine halbe Stunde später mit Blaulicht eintrifft. Yvonne nimmt die Kinder an der Hand, setzt sich im Wohnzimmer aufs Sofa. «Bitte, lieber Gott, nimm uns Othmar nicht weg, wir brauchen ihn!» Den Puls, den sie bei Othmar fühlte, war vermutlich nur noch ihr eigener. «Todeseintritt 10.28 Uhr», steht im Protokoll. «Plötzlicher Herzstillstand, ausgelöst durch Sarkoidose, einer Entzündung des Herzmuskels.» Der Sekundentod hätte Othmar seiner Familie jederzeit entreissen können.
Yvonne spricht schnell, zeichnet mit Worten und Händen das Bild ihres Mannes, so vertieft, dass ihr Kaffee auf dem Stubentisch unberührt erkaltet. Das Sterben passte nicht zu Othmar. Er, das Energiebündel, der ruhelose Chrampfer, Molkereimeister in Kaderfunktion bei Emmi, mit Lust geleistete Überstunden, 22 Kilometer Radfahren täglich, 180 Rumpfbeugen, 80 Liegestützen; Othmar rauschte mit einem Tempo durch den Alltag, als hätte er geahnt, dass ihm das Leben nur im Zeitraffer vergönnt war.
Nach 18 Jahren verlässt keiner seine Familie spurlos. An den Wänden hängen Fotos der Familie; Othmars zuletzt getragenes T-Shirt liegt auf dem Ehebett, auf der Treppe stehen eingerahmte Briefe: «Heissgeliebte Yvonne, ich liebe dich so sehr.» Die Erinnerungen spannen sich wie ein Kokon um die Zurückgebliebenen.
Ariane, hellwache Erstklässlerin, sitzt mit am Tisch und zeichnet ihren Papa als Engel über den Wolken. «Hier hat er es schön», sagt sie und malt noch einen Schmetterling dazu.
Manchmal fehlt ihr der Vater, sagt Yvonne. Am ersten Schultag zum Beispiel. Bei den andern Kindern sassen Mama und Papa im Klassenzimmer, Ariane begleitete nur die Mutter. «Stimmt nicht», sagt Ariane und tippt sich auf die Schultern. «Da wars schön warm. Dädi stand hinter mir, das weiss ich.»
Wie trägt man als Mutter die Kinder durch das Tal, wenn einem selber so schwer zumute ist? Für Yvonne kommt die Kraft noch immer von ihrem Mann. Sie spricht mit Ariane und Matteo über Othmar, wann immer Fragen kommen. «Ich versuchte, den Tod nie zu verdrängen », sagt Yvonne. So sollte der Vater den Kindern nicht in jenem unwürdigen Anblick in Erinnerung bleiben, als er leblos im Keller lag. Wenige Tage nach Othmars Tod nahm sie Ariane und Matteo mit zum Aufbahrungsraum der reformierten Kirche. Da lag ihr Papa, schön hergerichtet, im Holzsarg. Ariane bettete einen lustigen Plastikvogel neben seinen Kopf, legte ihm seine Brille auf den Bauch, stellte die Trinkflasche dazu – gegen den Durst beim Velofahren da oben. Noch einmal streichelten Ariane und Matteo ihrem Dädi über den Kopf, gaben ihm einen letzten Kuss. «So wurde der tote Papa realer», sagt Yvonne. Nur die Vorstellung quälte Ariane, dass der Sarg mit ihrem Dädi in einen grossen Ofen geschoben würde. «Das ist ein Zauberofen, darin fliegt Papa in den Himmel.»
Yvonne hält das Zeitfenster zum unwiderruflich Geschehenen einen Spalt weit offen, wenn sie ihren Kindern sagt: «Dädi wartet da oben auf uns.»
Den kleinen Matteo interessieren die Gespräche am Stubentisch nicht. Lieber guckt er «Shrek 4» in Endlosschlaufe; für ihn ist das grüne Knuddelmonster im Moment realer als ein Mann namens «Othmar». Nur abends im Bett hört Yvonne ihn manchmal sagen: «Gäll Dädi, du bisch im Himmel und du bisch tot.» Manchmal weint der Junge im Schlaf.
Drei Kerzen und ein Herz
Um sich fallenzulassen, blieb zunächst keine Zeit. Kaum war der Leichnam aus dem Haus, klopften die Behörden an die Tür. Statt Herzlichkeit und Hilfe hagelte es Paragrafen und Papierkram. «Steuern, Einzahlungen, bis jetzt machte alles mein Mann – ich war völlig überfordert. » Zumindest reichen Witwen- und Halbwaisenrente, Pensionskasse und Gespartes gut zum Leben. Eine Stelle als Molkeristin will Yvonne suchen, wenn die Kinder grösser sind. Einige Freunde zogen sich zurück, andere drängten sich fast unangenehm in den Vordergrund. «Und es gibt Menschen, die sind wie Engel; sie spüren, was wir brauchen.»
Und Hilfe für die Seele? Yvonne schüttelt den Kopf. Sie verspürte nie das Bedürfnis nach psychologischem Beistand. Ihren Ruhepol findet sie in der Waschküche. An jener Stelle, an der Othmar starb, steht eine kleine Gedenkstätte: drei Kerzen, ein Glasherz, Zeichnungen der Kinder. Hier spricht Yvonne mit ihrem Mann, erzählt ihm, was sie bedrückt, fragt ihn nach Rat. Jetzt schaut sie in das flackernde Licht hinter dem roten Glas und schweigt. Bis ihr die Tränen über die Wangen laufen: «Ich wäre so gerne alt geworden mit ihm.»
Erst das Kindergeschrei aus dem oberen Stock reisst Yvonne aus der Versunkenheit. Ariane und Matteo holen sie zurück in die Gegenwart. Und ein junger Hund. «Warte, Othmar, ich hole gleich die Leine!», ruft Yvonne dem übermütigen Wollknäuel zu. Ein bisschen wenigstens soll die Lebenslust ihres Mannes im Tierchen weiterleben.
Familie und Tod sind das Fachgebiet von Claudia Külling (49). Als Geschäftsleiterin des Vereins Onko Family Care hat sie zusammen mit 30 Freiwilligen unzählige Trauerfamilien begleitet. Ihr Fazit aus der psychosozialen Beratung: «Wie Partner oder Kinder auf den Tod eines Elternteils reagieren, lässt sich nie verallgemeinern. » Im Umgang mit dem Tod fühlt und verhält sich jeder anders.
Auch Kinder haben je nach Alter ein anderes Verständnis von Sterben und Tod. Bis etwa 8 Jahre erfassen sie die Endgültigkeit des Todes nicht; sie leben mit dem Gefühl, Mama oder Papa kämen wieder. Viel hänge davon ab, wie Kinder ins Sterben oder in das Begräbnis miteinbezogen würden. «Wenn sie den verstorbenen Elternteil noch einmal anfassen können, begreifen sie eher, dass er tot ist.»
Begleitung im Alltag
In der Schweiz sterben jährlich rund 1000 Väter und 400 Mütter von minderjährigen Kindern und hinterlassen mehr als 2000 Halbwaisen.
Der Verein Aurora für verwitwete Mütter und Väter in der Schweiz hilft mit Infos weiter und vermittelt Kontakte zu anderen Witwen und Witwern. Zudem gibts Kurse zur Alltagsbewältigung, regionale Treffen für Erwachsene oder Familien und Beratung. Infos: www.verein-aurora.ch
Onko Family Care bietet Familien mit einem an Krebs erkrankten Elternteil oder Kind eine kostenlose psychosoziale Begleitung und Entlastung im Alltag an. www.onkofamilycare.ch
Mal traurig, mal heiter
Während Erwachsene länger in einer Gemütsstimmung verharren, verhalten sich Kinder oft sprunghaft. Von tieftraurig zu unbeschwert und zurück. Von festen Vorstellungen auszugehen, wie ein Kind zu trauern habe, erzeuge nur zusätzlichen Druck, sagt Claudia Külling «Natürlich irritiert es Erwachsene, wenn der Sohn neben seiner toten Mutter Gameboy spielt – aber für Kinder ist das nicht ungewöhnlich. » Erst wenn ein Kind sich sozial zurückzieht, als 6-jähriges in kleinkindliches Verhalten zurückfällt oder sich sehr stark an den zurückgebliebenen Elternteil klammert, müsse man an eine psychotherapeutische Unterstützung denken. «Das Sterben eines Elternteils ist prägend. Dennoch überstehen die meisten Kinder das schlimme Ereignis besser, als wir Erwachsenen oft befürchten.»
Für Christian Abbühl (40) kam die Zäsur vor zweieinhalb Jahren. 10 Monate nach der Geburt des Kindes litt seine Frau (35) unter einer schweren, postnatalen Depression. Die Gedanken drückten, die Zweifel nagten.
«Ist es richtig, ein Kind in die Welt gesetzt zu haben?» fragt sie Christian.
«Wenn du wieder gesund bist, wirst du sehen, wie schön es ist, Mutter zu sein», sagt er.
«Du meinst, es kommt gut?», fragt sie.
«Es kommt alles gut.»
Als um ein Uhr morgens die Hausglocke klingelt und zwei Polizisten draussen stehen, weiss Christian, dass es nicht gut gekommen ist. Seine Frau stürzte sich von einer Brücke.
Jana (3) wuselt durchs Wohnzimmer. Sie hält die Puppe Annabelle im Arm, kratzt mit dem Spielzeugstaubsauger über den Steinboden, serviert Kaffee in Kindertässchen. «Papa, wo ist die Wolldecke? Ich will eine Höhle bauen mit dir. Sofort!» Christians Stimme umhüllt seine Tochter beruhigend wie ein Sommerwind: «Einen Moment, Jana, ich möchte zuerst fertig reden.» Christian gleicht einer Pappel, die gross und schlank und tief verwurzelt dem stürmischen Alltag standhält.
Wie übersteht man als Vater den Schock, wenn die Mutter des gemeinsamen Babys plötzlich nicht mehr da ist? «Vielleicht ist es gerade das Kind, das mich davor bewahrte, in ein Loch zu fallen», versucht es Christian zu erklären. Nur wenige Tage nach dem Tod seiner Frau steigt in ihm die Gewissheit hoch: «Ich will Jana ein schönes Leben bieten – und das gelingt nur, wenn es mir selber gut geht.»
Ein befreundetes Paar zieht für drei Monate bei ihm ein – damit sich das Haus nicht so leer anfühlt. Die intensiven Gespräche ersetzen den Psychologen: «Früher redete ich nie über Gefühle, jetzt lernte ich es.»
Von der Stubendecke baumeln Fotos von Janas Mutter, aufgereiht auf einem Faden. Am liebsten mag Jana die Bilder, auf denen sie als Baby im Arm ihrer Mama liegt. «Meine Mama ist im Himmel», erklärt das Mädchen dann so beiläufig, wie wenn sie von Puppe Annabelles Schnupfen erzählt. Obwohl: Wenn Christian Jana auf dem Friedhof erklärt, ihre Mutter liege im Grab, frage sie schon, wo Mama denn nun sei – im Himmel oder unter der Erde?
Eine Strategie hat sich Christian keine zurechtgelegt, er vertraut auf die Antworten aus dem Bauch. Die Betreuerinnen in der Krippe hat er angewiesen, seine Tochter nicht anzulügen, wenn sie dereinst Fragen stellt.
Reden tut gut
Zwei Tage pro Woche verbringt Jana in der Kita, drei Tage übernimmt die Nachbarin als Tagesmutter. Christian arbeitet zu 80 Prozent als Elektroniktechniker. Freitag nachmittags kauft er ein, haushaltet, werkelt im Garten. Das Wochenende gehört Jana. «Nur für mich selber bleibt wenig Zeit.»
«Papa, kommst du jetzt in die Höhle?» Jana zupft ihren Vater am Ärmel. Die beiden ziehen sich die Wolldecke über den Kopf. «Jetzt singen wir, dann schlafen wir, dann gehen wir einkaufen!», hört man Jana resolut erklären. «Ich ghöre äs Glöggli» erklingt es im Bariton. Christian singt das Lied seiner Tochter jeweils abends vor.
Erinnerungen, Gefühle und Gedanken? Sie überkommen ihn überraschend: «Warum muss ich alles allein packen?», fragte er sich entnervt, als er das erste Mal nur mit Jana in die Ferien fährt. Am liebsten hätte er den halbvollen Koffer in eine Ecke geknallt.
Als der Steinmetz Christian nach der Beerdigung fragte, ob er auf dem Grabstein unter dem Namen seiner Frau eine Lücke lassen solle für den eigenen Namen, zögerte Christian einen Moment. Dann aber fand er die Idee abwegig. «Dafür bin ich doch noch zu jung!»
Christian wollte nie in der Vergangenheit verharren, sondern vorwärts blicken. Dennoch empfand er die monatlichen Treffen mit der Selbsthilfegruppe des Vereins Aurora als wohltuend. Er begegnete Müttern und Vätern, die auch den Partner verloren hatten, erzählte von Trauer und Zorn. «Die andern wissen, wie es sich anfühlt, wenn der Tod gewaltsam in den Alltag einbricht.» Das Reden darüber entlastet, ermutigt – und öffnet manchmal Türen in die Zukunft.
Kürzlich lernte Christian bei Aurora eine verwitwete Mutter mit zwei Jungen kennen. Und lieben.
«Darf ich das?», fragt er sich seither manchmal. «Darf ich das jetzt schon?»
Christian holt die Einkaufstasche aus dem Schrank, stülpt Jana die rosa Mütze über, sucht die verlegten Handschuhe. Die Antwort auf seine Frage liegt im fordernden Pulsschlag des Alltags: Das Leben geht weiter.