Interview
«Mütter arbeiten nicht, das war die Devise»
Die ausserfamiliäre Kinderbetreuung ist in der Schweiz bis heute ein Politikum. Die Historikerin Dore Heim erklärt, weshalb hierzulande mit Kitas und Tagesschulen so gehadert wird.
Dore Heim, bis weit ins 20. Jahrhundert hinein waren Institutionen wie Kinderkrippen, Kinderheime und selbst der Hort in der Schweiz stigmatisiert. Weshalb eigentlich?
Das ist spezifisch für die Schweiz. In Deutschland hatte man zwar auch das Ideal des Ernährerlohns, der die ganze Familie durchbringen sollte, damit die Mutter zu Hause bleiben konnte. Aber während und nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Frauen enorm beansprucht. In der Schweiz ging nicht wie in anderen Ländern eine ganze Generation von Männern verloren. Deshalb hielt man hierzulande viel länger am Modell der «richtigen» Rollenteilung fest. Es war verpönt, Kinder in eine Krippe zu geben. Es galt das rigide Hausfrauen- und Muttermodell. Lehrerinnen beispielsweise verloren ihre Stelle, wenn sie Mutter wurden.
Das haben Sie noch so erlebt?
Meine Grossmutter war eine solche Lehrerin, der Berufsverlust schmerzte sie ihr Leben lang. Ich wuchs in den 1960er-Jahren in Chur auf und wusste von Kindern, die am Nachmittag allein zu Hause waren, weil ihre Mama arbeiten musste. Mit diesen «Schlüsselkindern» hatte man wahnsinnig Mitleid. Ich selber war die Jüngste von sieben Kindern, wir hatten Haushaltslehrmädchen, die aus den Tälern Graubündens kamen. Aber wenn wir Mädchen über die Stränge schlugen, drohte man uns mit dem Internat in Menzingen – ein Schreckgespenst unserer Jugend.
Das alte Rollenmodell korreliert also stark mit der Stigmatisierung von Kindertagesstätten?
Manchmal fällt mir die Kinnlade herunter, wenn ich von gut ausgebildeten Frauen höre, die mit dem ersten Kind selbstverständlich aufhören, erwerbstätig zu sein. Weil das Kind auf keinen Fall eine Kita besuchen soll. Das ist ein furchtbar konservatives Familienbild. In ländlichen Regionen in der Schweiz ist dieses immer noch recht dominant.
Lässt sich historisch ein Zeitpunkt festlegen, an dem die Kinderbetreuung ausser Haus zum Thema wurde?
Dass man Kindererziehung überhaupt als wichtig erachtete, kam Ende des 18. Jahrhunderts mit Rousseau auf. Bürgerliche Kreise begannen, das Augenmerk auf die Erziehung der Kinder zu richten, ab Ende des 19. Jahrhunderts kümmerte man sich dann auch um die, wie man meinte, «verwahrlosten» Kinder der Unterschicht. Sozusagen mit begütertem Blick von oben herab aufs Proletariat. Die Kinder wurden den Eltern teilweise weggenommen, um sie im Sinne eines bürgerlichen Ideals zu erziehen und sie zu «wertvollen Mitgliedern der Gesellschaft» zu formen. Pflichtbewusstsein, Disziplin und Hygiene standen im Vordergrund. Die ersten eigentlichen Kinderheime entstanden auch zu dem Zeitpunkt, diese wurden vor allem von bürgerlichen Frauen und kirchlichen Institutionen getragen.
Durch die Industrialisierung am Ende des 19. Jahrhunderts arbeiteten plötzlich auch viele Frauen und Männern ausserhalb in den Fabriken, wer kümmerte sich da um die Kinder?
Kleinkinder wurden im besten Fall zu Hause von den Grosseltern gehütet – oder auch sich selbst überlassen. In der Frühindustrialisierung nahmen Eltern ihre älteren Kinder oft mit in die Fabriken. Dort gab es genug Arbeiten, die man vorzugsweise von jüngeren Kindern ausführen liess. Mit fünf Jahren mussten sie zum Beispiel unter die Webstühle kriechen und Fäden entwirren. Teilweise hochgefährliche Arbeiten.
Und dann kümmerte sich irgendwann der Staat um die vernachlässigten Kinder zu Hause?
Nein, der Staat spielte damals noch kaum eine Rolle. Es waren wie gesagt bürgerliche und kirchliche Kreise. Diese sorgten sich allerdings zunächst weniger um die Arbeiterfamilien und ihre Kinder. Es ging vielmehr um junge, ledige Mütter – oft Dienstmädchen – denen man die Kinder wegnahm und sie in Kinderheimen versorgte.
Und ab wann mischte der Staat mit?
Staatliche Eingriffe mit Entmündigung und Kindswegnahme erfolgten verstärkt in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. In diese Zeit fiel auch das berüchtigte Projekt «Kinder der Landstrasse» von Pro Juventute. Man versuchte, die Kinder der Jenischen ihrer Herkunft zu entziehen und so ihre Kultur zu sprengen. Das hatte einen üblen eugenischen Hintergrund. Bis nach dem Zweiten Weltkrieg ging es übrigens nie um die Idee, die Eltern zu unterstützen – es ging darum, die Kinder zu erziehen, um «Kinderversorgung». Der Begriff «ausserfamiliäre Kinderbetreuung» stimmt erst ab den 1950er-, 1960er- und 1970er-Jahren.
Nicht nur Kitas, auch Kinderheime haben einen schlechten Ruf – historisch wahrscheinlich zu Recht. Ich selbst war in den 1970er-Jahren zur Entlastung meiner Mutter ferienhalber für zwei Wochen in einem Kinderheim am Ägerisee. Dort wurden die Kinder von den Nonnen geschlagen.
Ich bin Präsidentin eines Kinderheimes in der Stadt Zürich und beschäftige mich stark mit dem Thema. Historisch wurde es immer dann gefährlich bei Institutionen für Kinder, wenn der Einblick von aussen fehlte, egal, ob kirchlich oder staatlich geführt. Da kam es oft zu Machtmissbrauch. Heute wird ein viel grösseres gesellschaftliches Augenmerk auf Einrichtungen für Kinder geworfen.
Welches waren und sind die Aufsichtsbehörden?
Der Staat hatte auch früher eine Aufsichtspflicht. Bloss verstand man damals den Behördenauftrag ganz anders. Man schaute darauf, ob die Kinder sauber und gut genährt sind. Wie es den Kindern psychisch ging, ob sie liebevoll und mit Herzenswärme aufwachsen, interessierte nicht. Das hat sich komplett geändert. Qualität hat heute einen hohen Stellenwert. Für ein gesundes Aufwachsen der Kinder sind mittlerweile viele Fachleute wie Psychologinnen, Ergotherapeuten usw. involviert. Auch die Eltern, deren Kinder im Heim sind, werden heute gestützt. Sie haben viel mehr Möglichkeiten, sich für sich selbst und für die Kinder zu wehren. Es ist elementar, dass die Heime nicht mehr abgeschottet sind. Heutige Heime müssen sich zwingend mit ihrem geschichtlichen Erbe auseinandersetzen.
Zur Person
Dore Heim arbeitete nach ihrem Studium der Geschichte und Soziologie u.a. als Gleichstellungsbeauftragte der Stadt Zürich und Zentralsekretärin des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes. Als Präsidentin des evangelischen Frauenbundes Zürich, zu dem das Kinderheim Pilgerbrunnen gehört, initiierte sie das Forschungsprojekt «Kinderheim Pilgerbrunnen». Aktuell erforschen drei Historikerinnen die Geschichte des Kinderheims, die Ergebnisse werden 2025 publiziert. Dore Heim lebt mit ihrem Mann in Zürich. Sie hat eine erwachsene Tochter und einen Enkel.
Wie wurde und wird die ausserfamiliäre Kinderbetreuung eigentlich aus feministischer Warte wahrgenommen und beeinflusst? Historisch scheint es sich um ein reines Frauenthema zu handeln ...
Historisch waren es bei Kleinkinderinstitutionen ausschliesslich Frauen, die dort tätig waren. Bis heute sind Frauen stark übervertreten. Das hat damit zu tun, dass Kinderbetreuung nicht als Beruf galt. Man schrieb den Frauen zu, dass «sie das sowieso können», es war eine Frauendomäne. Es gab zwar schon seit dem frühen 20. Jahrhundert Ausbildungen zur Säuglingspflegerin oder Kleinkinderbetreuerin, aber erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden die Berufe staatlich reguliert und anerkannt.
Das tiefe Lohnniveau entsprechender Berufe spiegelt ja noch immer deren gesellschaftlichen Wert wider ...
Alle Berufe, die historisch den Frauen zugeordnet werden, kämpfen bis heute mit dem Lohnniveau: Pflege, Altenbetreuung, Kinderbetreuung. Hoch anspruchsvoll, aber schlecht bezahlt.
Welche politischen und gesetzlichen Meilensteine in den letzten 100 Jahren schätzen Sie als die wichtigsten ein?
Alle Gesetze, die für die Gleichstellung der Frau etabliert wurden, haben indirekt oder direkt eine starke Wirkung auf die ausserfamiliäre Kinderbetreuung: Dass man es nicht mehr seltsam findet, wenn Frauen erwerbstätig sind, dass Frauen selbst über ihre Ausbildung und ihr Geld bestimmen können, die Gleichstellung im Familien- und Erbrecht, die Lohngleichheit. Auch die rechtlichen Regelungen zum Kinderschutz tragen entscheidend dazu bei, die Qualität der ausserfamiliären Betreuung zu sichern.