Sinne – Tastsinn
Kleine Hände, grosse Gefühle
Jeder, der sich schon einmal nach einem Zahnarztbesuch wegen betäubter Backe auf Zunge oder Lippe gebissen hat, weiss, wie wichtig es ist, körperlich empfinden zu können. Ohne Gefühlssinn wären wir nicht nur schmerzunempfindlich, sondern völlig gelähmt und letztlich kaum lebensfähig. Hinter der scheinbar simplen Fähigkeit des Tastens und Fühlens aber steckt ein raffiniertes Zusammenspiel von drei primitiven Sinnen. «Primitiv» deshalb, weil diese Sinne sehr früh im embryonalen Stadium gebildet werden. Die Rede ist vom Tastsinn (taktiles System), von der Tiefenwahrnehmung (kinästhetisches System) und vom Gleichgewichtssinn (vestibuläres System). Der Tast- oder Taktilsinn betrifft die Haut und ist der erste aller Sinne überhaupt, der sich entwickelt. Bereits ab der 5. Schwangerschaftswoche spürt der Embryo Berührungen an den Lippen, in der 12. Woche ist der Tastsinn am ganzen Körper ausgebildet. Kein Zufall ist, dass das Gefühl in den Lippen so früh und ausgeprägt einsetzt: «Das Kind nuckelt bereits im Mutterbauch an seinen Fingern und erfährt damit einen positiven Stimulus», erklärt die Gynäkologin und Geburtshelferin Bettina von Seefried, «das ist die beste Voraussetzung, um nach der Geburt die Mutterbrust zu suchen.»
Schon beim Fötus ist die Haut die äussere Hülle, die gleichzeitig Verbindung und Abgrenzung zur Aussenwelt darstellt. Im Mutterbauch bewegt er sich, berührt die Gebärmutterwand und wird vom Fruchtwasser stets warm umspült. Damit wird der Tastsinn geschult und sensibilisiert. Später wächst die Haut zum grössten menschlichen Organ heran, mit einer Fläche von 1.5 bis 2 Quadratmetern und rund 3000 Hautsinneszellen pro Quadratzentimeter.
Tiefenwahrnehmung
Die Haut nimmt Reize auf, lässt sich streicheln, wärmen, drücken, kitzeln, malträtieren. Der Mensch empfindet Gefühle in einem Kontinuum von äusserst angenehm bis unerträglich schmerzvoll. Wohl nicht ganz zufällig bedeutet das Wort «Gefühl» in vielen Sprachen sowohl physisches als auch psychisches Empfinden. Denn die Haut und das Nervenssystem (Gehirn) entwickeln sich aus der gleichen Gewebsschicht und haben damit denselben Ursprung. Der zweite «primitive» Sinn ist die Tiefenwahrnehmung, auch als Körpergefühl, Kinästhesie oder Tiefensensibilität bezeichnet. Genau wie beim Tastsinn nehmen wir damit Druck und Spannung wahr – jedoch nicht auf der Haut, sondern im Körperinnern. Dort werden Informationen über Muskelspannung, Gelenkstellungen und -bewegungen an das Gehirn weitergeleitet. Damit lernt das Baby schon ganz früh, wie es sich anfühlt, wenn es seine kleinen Muskeln anspannt oder es völlig relaxed im Fruchtwasser «schwebt». Ohne die Tiefenwahrnehmung könnten wir letzlich nicht wissen, ob unser Knie angewinkelt oder gestreckt, die Hand offen oder zu einer Faust geballt ist.
Zwar gehört der dritte Basissinn, der Gleichgewichtssinn (das vestibuläre System), streng genommen zum Gehörsinn, weil die Reizempfänger für die Wahrnehmung des Gleichgewichts im Innenohr liegen. Dennoch spielt die vestibuläre Sensibilität eine Rolle beim Tast- und Fühlsinn. Denn sie hilft uns, klar zu werden über die Schwerkraft, die Lage im Raum oder die Geschwindigkeit und Richtung von Bewegungen. Der Gleichgewichtssinn entwickelt sich um die 9. Schwangerschaftswoche aus demselben Keimblatt wie das zentrale Nervensystem. Die Mutter stimuliert den Gleichgewichtssinn allein durch ihre Bewegungen. Gleichzeitig «trainiert» das Kind das Gleichgewicht, indem es strampelt und seine Lage im Bauch verändert. Es behagt ihm zu schaukeln und sich um sich selber zu drehen – es übt damit gleichzeitig für das Leben nach der Geburt. Denn einmal auf der Welt, umgibt das Baby nicht mehr schützendes Fruchtwasser. Es muss lernen, selber zu sitzen und ein paar Monate später ein Bein vor das andere zu setzen, ohne seitlich oder kopfüber hinzuplumpsen.
Feinwerkzeug
Zwar werden die Grundsteine für den Tast- und Fühlsinn schon im Mutterbauch gelegt. Fertig ausgebildet ist dieser aber erst nach dem 2. Lebensjahr. «Wir Menschen sind Nesthocker», sagt Bettina von Seefried, «wir können nicht wie kleine Hasen – kaum geboren – vor dem Feind davonhüpfen.» Deshalb ist es wichtig, das Baby nach der Geburt zu berühren, streicheln, knuddeln. Denn wenn die Eltern sich dem Neugeborenen körperlich zuwenden, helfen sie ihm nicht nur, seine motorischen Fähigkeiten zu bilden, sie schaffen auch seelische Nähe und stärken das Immunsystem. Da auf Lippen und Zunge überdurchschnittlich viele Hautrezeptoren sitzen, bringt das Baby ein ausgefeiltes Rüstzeug fürs Saugen und Schlucken mit. Und beim Trinken und Nuckeln an der Brust oder am Schoppensauger meisselt das Baby sozusagen sein Feinwerkzeug für die spätere Sprachmotorik. Ein wenig wie eine leere Batterie sei ein Neugeborenes, sagt Bettina von Seefried. Und diese müssen aufgefüllt werden mit Liebe, Milch – und viel Berührung. «Damit helfen die Eltern dem Baby, am Feintuning des Tastsinns zu arbeiten.» Und sich letzendlich wohlzufühlen in seiner Haut.
Taktile Abwehr
Bei besonders hoher Sensibilität der Haut spricht man von Hyperästhesie oder taktiler Abwehr. Betroffene Kinder etwa reagieren überempfindlich und emotional auf Berührungen und wehren Personen oder Materialien richtiggehend ab. Sie ekeln sich beispielsweise vor Breien, Saucen, Cremes oder Bananen, vor Sand, Schlamm, oder Staub. Ergo- oder psychotherapeutische Methoden können helfen, die taktile Abwehr zu überwinden.
Wenn der Schmerz fehlt
Wie wichtig der Fühlsinn ist, zeigt sich dort, wo er fehlt: zum Beispiel bei Lähmungen. Wie unverzichtbar aber auch der Schmerzsinn ist, zeigt sich im Schicksal eines pakistanischen Jungen. Als Strassengaukler rammte er sich Messer in den Körper und ging über glühende Kohle, Schmerz empfand er dabei nicht. Nach den Aufführungen liess der Junge sich die Wunden im Krankenhaus nähen und die Verbrennungen behandeln. Was ihn von fast allen anderen Menschen unterschied, war ein Gendefekt. Dabei sind die feinen Fasern im peripheren Nervensystem nicht ausgebildet, Schmerz ist daher für sie ein unbekanntes Gefühl. Die Betroffenen leben meist nicht sehr lange, weil sie von ihrem Körper weder die Information über eine innere, lebensgefährliche Entzündung noch Krankheit erhalten. Sie spüren nicht, wenn ein Knochen gebrochen ist oder sie sich geschnitten haben. Auch die Geschichte des pakistanischen Jungen endete tragisch: Er überschätzte sich beim Sprung von einem Hausdach und starb mit 14 Jahren.