Kita / Eingewöhnung
Kita-Start: So gelingt die Eingewöhnung
Die Kita-Eingewöhnung ist für Kinder und Eltern oft eine Zerreissprobe. Das muss nicht sein. Eine Krippe in Rüschlikon setzt ein neues Eingewöhnungsmodell um - mit Erfolg.
Das Zürcher Modell
Ein Kind soll sich seinem Alter und seiner Entwicklung entsprechend an die neue Umgebung und die neue Bezugsperson gewöhnen können. Das Ziel des Zürcher Modell ist es, auf die Bedürfnisse des Kindes einzugehen und ihm damit Sicherheit, Orientierung und Geborgenheit zu geben. Die Trennungsangst der Eltern wird anerkannt und die Trauer des Kindes nach der Trennung verstanden und benannt. Das Lesen der «Feinzeichen der Befindlichkeit» ist ein pädagogisches Instrument, um zu beurteilen, ob die Kita und die neue Bezugsperson vertraut genug für das Kind geworden sind.
Woche: Das Kind und ein Elternteil besuchen die Kinderkrippe an mindestens acht Tagen für maximal zwei Stunden gemeinsam.
siehe 1. Woche.
Woche. Der Elternteil verlässt die Krippe erstmals für 15 Minuten. Vor und nach der Trennung verbringen die Eltern mit dem Kind noch etwas gemeinsame Zeit in der Kita. Schrittweise wird die Trennungszeit in dieser Woche auf 1 Stunde erhöht.
Woche: Die Trennungszeit wird auf zwei Stunden erhöht.
Woche: Die alleinige Anwesenheit des Kindes wird auf vier Stunden erhöht, so dass es das Mittagessen in der Gruppe erlebt.
Woche: Die Präsenzzeit wird auf den ganzen Tag verlängert - am 1. und 2. Tag bis 14 Uhr, am 3. und 4. Tag bis 16.15 Uhr
[www.baby-hilfe-zuerich.ch] ( "www.baby-hilfe-zuerich.ch")
Es ist eine Geschichte, die sich so oder ähnlich wohl schon viele Male zugetragen hat, die meistens jedoch anders endet. Hier erzählt sie Lourdes Solà Quijada, Mutter von Carlotta. Ereignet hat sie sich im Herbst des vergangenen Jahres. Die Pflegefachfrau und Tänzerin aus Barcelona, die der Liebe wegen nach Zürich gekommen war, wollte nach einem Jahr als [Vollzeit-Mutter] ( "artikel/ganz-und-gar-mama-970") wieder arbeiten gehen. Sie und ihr Partner hatten eine Kita gefunden, gleich um die Ecke, Nachbarskinder besuchten die [Krippe] ( "artikel/lernen-durch-spiel-und-spass-859") ebenfalls. Carlotta, damals gerade eins geworden, sollte in Zukunft zwei Tage dort verbringen, den Montag und den Dienstag.
Zu Beginn gab es ein halbstündiges Kennenlerngespräch, danach ging die Familie zwei Wochen in die Ferien und am folgenden Montag begann die Eingewöhnung. Carlotta und ihre Mutter blieben am ersten Tag eine halbe Stunde lang gemeinsam in der Kita, am Dienstag zwei Stunden. Am folgenden Montag schlug Carlottas Betreuungsperson der Mutter nach 10 Minuten vor, die Tochter für eine Stunde alleine in der Krippe zu lassen. «Ich fand das zu früh, ging aber schliesslich doch», erinnert sich Lourdes Solà. Als sie auf dem Rückweg vom Einkaufen an der Kita vorbeikam, sah sie, wie ihre Tochter weinend in der Hängematte lag; ihre Betreuungsperson stand abseits. Zuhause wollte Carlotta von da an nur noch herumgetragen werden. Nachts weinte sie neuerdings und war unruhig, ohne richtig aufzuwachen. Mutter und Tochter verbrachten noch ein paar weitere Montag- und Dienstag- Morgen in der Kita. «Es waren die schrecklichsten Wochen, die wir je zusammen hatten, Carlotta litt offensichtlich», erinnert sich Lourdes Solà. Schliesslich beschlossen die Eltern, den Kita-Platz zu kündigen und Carlotta mindestens bis zum zweiten Geburtstag zu Hause zu betreuen.
Für Anna von Ditfurth von der Beratungsstelle baby-hilfe-zuerich, ist klar: Eine derart kurze Eingewöhnungszeit ist Stress pur - für das Kind, aber auch für die Eltern und für die Erzieherinnen. «Es ist für Kleinkinder eine Herausforderung, eine neue, Sicherheit gebende Beziehung zu einer fremden Personen aufzubauen.» Um sich mit den neuen Geräuschen, Stimmungen, Gerüchen und den anderen Kindern vertraut zu machen, benötigen sie Zeit und die Hilfe und Unterstützung ihrer Eltern oder anderen primären Bezugspersonen. Anna von Ditfurth hat sich in den letzten 15 Jahren vertieft mit dem Kita-Eintritt von Kleinkindern befasst und hat dabei zusammen mit Krippenleiterinnen des Bezirks Horgen viele Stunden Videomaterial von Eingewöhnungen ausgewertet. Das Fazit der Erziehungsberaterin und und Dozentin des Marie Meierhofer Instituts für das Kind: «Wir müssen den Eingewöhnungsprozess entschleunigen und entflechten.»
Am Anfang dieses Prozesses stehen die Eltern und ihre Trennungsängste. Alle Mütter und Väter fragen sich beim Übertritt in eine Institution: Ist mein Kind hier gut aufgehoben? So lange sie dies nicht sicher wissen, fällt es ihnen schwer, das Kind abzugeben. «Weil die Mütter aber arbeiten gehen und nicht als Glucken dastehen wollen, versuchen viele, ihre Ängste wegzuschieben. Andere kämpfen offen mit Trennungsangst. Sich schwer trennen zu können, ist normal», weiss Anna von Ditfurth. «Im ersten Schritt geht es deshalb darum, die Eltern da abzuholen, wo sie sind und ihnen zu vermitteln, dass ihre Gefühle in Ordnung sind.» Das entspannt. Und entlastet gleichzeitig die Kinder, die oftmals ein feines Sensorium für den Stress ihrer Eltern haben.
Aus der Sicht des Kindes ist beim ersten Kita-Besuch noch alles gut, schliesslich ist die Mutter da, sie gibt ihm Sicherheit. «Unsere Videos haben allerdings gezeigt, dass die Babys bereits nach acht Minuten überstimuliert sind durch die vielen neuen Sinneserfahrungen», sagt Anna von Ditfurth. «Das Kita-Personal muss deshalb darin geschult werden, die sogenannten Feinzeichen der Befindlichkeit der Kinder lesen zu können.» Aus der Frühgeborenenforschung weiss man, dass gestresste Babys mit den Ärmchen und Beinchen rudern, weiss werden im Gesicht, ihr Herzschlag beschleunigt sich, im Extremfall erbrechen sie. Wie ungesund anhaltender Stress ist, wissen wir alle. «Für das Wohlbefinden in der Krippe und für die gesunde Entwicklung des Kindes ist es wichtig, dass es sich langsam mit der neuen Umgebung vertraut machen kann», sagt Anna von Ditfurth. Jedes Kind brauche zudem in der Kita seine persönliche Bezugs- und Bindungsperson. Nur wenn es ausreichend Zeit bekomme, zu dieser eine vertraute Beziehung aufzubauen, wird der Krippenbesuch eine Bereicherung für das Kind und seine Beziehung zu den Eltern bleibt trotz Trennung unbelastet.
Die Bindungsforschung hat gezeigt, dass Kinder, die sich während den ersten drei Jahren aufgehoben, geliebt und akzeptiert fühlen, später ein einfacheres Leben haben; es fällt ihnen leichter, sich in andere Menschen einzufühlen, sie können sich besser konzentrieren und sind in der Sprachentwicklung voraus. Frühe Trennungserfahrungen, die nicht gut gelaufen sind, hinterlassen Spuren, können massiven Stress und Angst auslösen und die Entwicklung des Kindes gefährden. Sensible Kinder sind besonders verletzlich. Trotz dieses Wissens gibt es in der Schweiz keine verbindlichen Regelungen, wie die Eingewöhnung in die Kita behutsamer und damit professioneller gestaltet werden kann. «Es besteht diesbezüglich grosser Entwicklungsbedarf», stellt Expertin Anna von Ditfurth diplomatisch fest.
Krippen, die das Qualitätslabel QualiKita tragen, und das sind gerade mal 60 Einrichtungen schweizweit, müssen bei der Eingewöhnung den QualiKita-Standard erfüllen. Dieser richtet sich nach dem Berliner Eingewöhnungsmodell, das allerdings nicht auf Babys, sondern auf Kinder ab zwei Jahren ausgelegt ist. Das «Berliner Modell» legt zum Beispiel fest, dass die ersten drei Kita-Tage in Anwesenheit der Mutter oder des Vaters direkt aufeinander folgen und frühestens am vierten Tag entschieden wird, ob das Kind für die erste Trennung parat ist. Alle anderen Kitas machen, wie ihnen beliebt.
Dabei würde es sich lohnen, deutlich weiter zu gehen, als QualiKita es vorschreibt. Die gemeindeeigene Kinderkrippe Suntenwiese in Rüschlikon ZH zeigts: «Bei uns dauert die gesamte Übertrittsphase rund sechs Wochen, vor der dritten Woche wird kein Trennungsversuch unternommen», sagt Simone Strupler, pädagogische Leiterin der Kita seit 17 Jahren. Und fügt an: «Wer nicht bereit ist, so viel Zeit aufzuwenden, kann sein Kind nicht zu uns bringen, Konzessionen machen wir keine.»
Die Suntenwiese arbeitet seit 2011 nach dem «Zürcher Modell zur Gestaltung von Übergängen» (siehe Box), das von Anna von Ditfurth entwickelt und in Rüschlikon erstmalig umgesetzt wurde. Der Wechsel zum «Zürcher Modell» ist sozusagen aus der Not geboren: «Wir haben alles getan, was wir konnten, um die Trennungsängste der Kinder zu mildern, aber es war nicht genug«, sagt Simone Strupler über die Zeit vor 2011. Belastend für alle Beteiligten, ganz besonders aber auch für das Personal sei das untröstliche Weinen beim Abschied von Vater oder Mutter gewesen. Für Anna von Ditfurth kein Wunder: «Ein weinendes Baby kann nur trösten, wer wirklich vertraut ist mit ihm. Versucht es eine Person, zu der das Baby keine Bindung hat, reagiert es mit noch mehr Stress. » Ein Teufelskreis. Je nach Temperament des Kleinkindes brüllt es, bis es – früher oder später - resigniert. Stress pur auch für das Krippenpersonal, das in dieser Situation Ohnmacht empfindet. Die starken Gefühle müssen unterdrückt werden. Wer das nicht schafft leidet. «Mit ein Grund für die hohe Ausstiegsrate aus dem Beruf», ist von Ditfurth überzeugt.
In der Suntenwiese ist man glücklich mit der Umstellung auf das «Zürcher Modell». «Der Krippenalltag ist deutlich ruhiger geworden», sagt Leiterin Simone Strupler, «auch wenn die Planung eines Neueintritts eine Herausforderung ist und die lange Präsenzzeit der Eltern zu Beginn auch für das Personal ungewohnt war.» Zudem zeigte sich, was Untersuchungen an andern Kitas schon vor vielen Jahren ergaben: Kinder, denen genug Zeit gegeben wird für den Übertritt, sind im ersten halben Jahr seltener und kürzer krank. Und: Sie schlafen sich in den Krippen weniger „weg“ vor Erschöpfung. «Das ist ein gutes Zeichen, denn es bedeutet, dass sie weniger Stress verarbeiten müssen», so Strupler. Und: Das Zürcher Modell scheint Schule zu machen. Im Raum Zürich sowie in Basel haben es bereits weitere Kitas übernommen. Anna von Ditfurth gibt Weiterbildungen fürs Kita-Personal und spricht an Fachtagungen.
Auch die Eltern sind begeistert. «Durch den zweiwöchigen gemeinsamen Aufenthalt zu Beginn bekommt man einen guten Einblick in den Kita-Alltag », sagt Marit Kruthoff (35), deren Sohn Finn (5) fast vier Jahre in die Suntenwiese ging; seit dem Sommer ist auch Tochter Lily, die mittlerweile eins ist, dort. «Man sieht, wie die Mitarbeiter mit den Kindern und miteinander umgehen, lernt die Tagesstruktur und die anderen Kinder kennen. Das schafft viel Vertrauen.» Und helfe, sich weniger als Rabenmutter zu fühlen, wenn man das Kind schon so früh fremdbetreuen lasse. «Klar gab es zu Beginn manchmal Tränen, wenn ich ging, aber ich wusste, dass die Kinder sich schnell von ihrer Bezugsperson trösten lassen. Ich bin überzeugt, dass diese Erfahrung das Grundvertrauen der Kinder gestärkt hat.»
8.3.2017
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Veronica Bonilla wollte früher Fallschirmspringerin werden. Seit sie den freien Fall bei der Geburt ihrer Kinder erlebt hat, hat sich dieser Wunsch in Luft aufgelöst. Übergänge und Grenzerfahrungen faszinieren sie bis heute. Dabei liebt sie es, um die Ecke zu denken und sich davon überraschen zu lassen, was dort auftaucht. Und stellt immer wieder fest, dass ihr Herz ganz laut für die Kinder schlägt. Sie war bis 2022 auf der Redaktion fest angestellt, seither als Freie für das Magazin tätig.