Sprachentwicklung
Kinder brauchen Reime
Alle Kinder der Welt, ob in Papua Neuguinea oder in Winterthur Töss, lieben Reime. Und – sie brauchen sie. «Reime, Gedichte und Lieder haben für Kinder wichtige Funktionen», sagt Professor Kurt Franz, Präsident der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur. «Zunächst einmal machen sie Kindern einfach Spass, weil sie von der üblichen Art zu sprechen abweichen und sich lustig anhören.» Aber Mädchen und Jungen lernten auch, dass Sprache nicht nur Inhalt sei, sondern jeder Inhalt eine Form habe. «Eine wichtige Kompetenz: Bei dem, was man sagt, den richtigen Ton zu treffen», so Franz. «Zudem ist Sprache Melodie, Rhythmus und manchmal sogar ganz ohne Sinn schön.» Das beweisen zwischen Nordkap und Nigeria all die kleinen Mädchen, die in rasendem Tempo ihre Hände aneinander patschen und dabei «Em pom pi koloni, kolonastik, em pom pi, akademi sulfari, akademi puff, puff» oder ähnliches singen. Inhalt: null. Quatschwort-Faszinationsfaktor: enorm.
Für Kinder ist der Klang Trumpf, nicht die Bedeutung
So stellten etwa die Wissenschaftler Stephen Dewhurst und Claire Robinson von der britischen Universität Lancaster fest, dass Erwachsene bei einem Assoziationstest zu einem genannten Wort sinnverwandte andere Wörter aus einer Liste auswählen. Etwa zu Haus: Wohnung, Garten, Dach, etc., während Vorschulkinder sich beim Zuordnen für die Reimwörter entschieden. Also: Haus, Maus, Laus, etc. Je kleiner das Kind, desto deutlicher interessiert es sich, wie sich etwas anhört und nicht was es heisst. Kein Wunder, nähern sich Mädchen und Jungen doch von Anfang an ihrer Muttersprache durch Lautmalereien und Intonation.
Babys deutschsprachiger Eltern weinen sogar anders als Kinder französischsprachiger Mütter und Väter. Das haben Wissenschaftler am Zentrum für vorsprachliche Entwicklung und Entwicklungsstörungen des Universitätsklinikums Würzburg herausgefunden. Während französische Neugeborene so weinten, dass die Frequenz von einer niedrigen zu einer höheren anstiegen, heulten deutsche Babys genau umgekehrt. Ganz gemäss der jeweiligen Sprachmelodie, in der Franzosen etwa das Wort Papa auf der zweiten, deutschsprachige jedoch auf der ersten Silbe betonen. Schon vor der Geburt, so Studienleiterin Kathleen Wermke gegenüber «Spiegel online», erlernten Säuglinge die Intonation der jeweiligen Sprache. Bis zum Alter von 12 Monaten entdecken Babys Laute, die von ihrer Muttersprache abweichen, so treffsicher wie ein Drogenhund ein Kilo Koks. Erst danach verlieren sie diese Fähigkeit, die Aufmerksamkeit erstreckt sich jetzt nicht mehr länger nur auf den Klang, sondern auch auf die Wörter.
Emotionale Beziehung ist wichtig für Spracherwerb
Schliesslich gilt es bis zum Schuleintritt 13 000 davon zu lernen. Dreijährige beispielsweise prägen sich pro Tag etwa 30 neue Bezeichnungen ein. Allerdings nur, wenn die neuen Wörter von echten Menschen stammen. Lern- DVDs und das Gestammel der Teletubbies fördern den Spracherwerb kein bisschen, sondern verlangsamen ihn. Und je jünger das schauende Kind ist, umso mehr. Jede Stunde, die kleine Kinder vor Sprach-Fördersendungen hocken, verringert die Zahl der erlernten Vokabeln um sechs bis acht. Das haben Forscher der Uni Washington herausgefunden. Nicht herausgefunden haben sie, wie Eltern auf den Gedanken kommen, Kinder unter drei Jahren mehrere Stunden vor dem Fernseher zu parken.
Erwiesen jedenfalls ist, dass Sprache vor allem durch emotionale Beziehungen gelehrt wird. Ein Schlaflied mit Papa, der Mittagessensspruch «Jeder isst so viel er kann, nur nicht seinen Nebenmann» mit Mama, und das feste Chindsgi-Begrüssungsritual «Alle Kinder sind jetzt da, hurra, hurra, hurra!» koppeln das angenehme Gefühl von Nähe, Sicherheit und Geborgenheit mit Sprache. Der Grundstein für Sprechfreude ist gelegt. Kommen noch Bewegungen hinzu, prägen sich Mädchen und Jungen Verse sogar noch besser ein und schulen dadurch beispielsweise ihre Fähigkeit, gleiche Anlaute und Endungen zu erkennen. Eine wichtige Voraussetzung fürs Lesen- und Schreibenlernen. Ein erster Schritt Richtung Buch und ein erster Schritt Richtung Gemeinschaftsgefühl durch miteinander geteilte Kultur.
Sprache kann alles erschaffen
«Sehr beliebt bei Kindern sind natürlich auch alle Reime, die provozieren», so Kurt Franz. Da gelte es für Erwachsene grosszügig wegzuhören und sich an die eigene Kindheit zu erinnern. Begleitete doch damals wie heute rasselndes Gelächter den Spruch «Ein Elefant kam aus Schaffhausen und liess einen Furz durchs Telefon sausen», und Generationen von Kindern freuten sich schon an «Von den blauen Bergen kommen wir, unser Lehrer ist genauso doof wie wir». Nein, schön ist das nicht. Aber wunderschön ist, dass Kinder dabei so kichern wie nur Kinder kichern. Und ganz nebenbei lernen: Mit Sprache kann man alles erschaffen, Goethes Faust und «Zicke, zacke, Hühnerkacke».