Gesundheit
Drama: Wenn Babys Essen verweigern
Von Veronica Bonilla Gurzeler
Wenn Babys oder Kleinkinder das Essen verweigern, geraten Eltern in allergrösste Not und brauchen dringend Unterstützung. Die ist nicht immer einfach zu finden.
Wer Lucia Graber* (32) mit ihren Söhnen Mathis (6) und Loris (2,5) im Coop beim Einkaufen trifft, sieht eine ganz normale Familie in einer alltäglichen Situation: Mathis möchte ein Brötchen, und beide Buben freuen sich, als sie eins bekommen. Doch der Schein trügt. Denn Essen tut nur Mathis. Loris nimmt das Brötchen, legt es aber bald neben sich in den Buggy. Später sitzt die ganze Familie am Tisch, es gibt Geschnetzeltes, Reis, Salat. Mathis und seine Eltern essen mit Appetit. Vor Loris steht ebenfalls ein Teller, doch dieser bleibt unberührt. Loris isst nicht. Heute nicht, gestern nicht, ebenso wenig vor einem Monat oder vor einem Jahr. «Einen Teller will er trotzdem haben, sonst protestiert er», sagt Vater Simon Graber (40). Im Moment beisst der Bub gerne auf einem Stück Landjäger oder Salami herum, schluckt aber nicht, sondern spuckt es wieder aus. «Die Situation belastet uns extrem», sagt Lucia Graber. «Wir weinen oft und haben Angst, dass Loris stirbt. Ich wünsche mir, eines morgens aufzuwachen und alles ist gut.»
Seit Loris sieben Monate alt ist, wird er mit einer Sonde ernährt. Brei hat er nie gegessen, auch Milch kaum getrunken. «Schon die Schwangerschaft war schwierig», erzählt die junge Mutter, «es war mir wichtig, mich gesund zu ernähren und keine Medikamente zu nehmen, auch Alkohol trank ich nie. Weil ich oft Krämpfe hatte, musste ich alle zwei Wochen zur Kontrolle.» Schliesslich hörte sie auf zu arbeiten. Trotzdem kam Loris drei Wochen zu früh auf die Welt, am 10. Mai 2016. Er mass 45 Zentimeter und 2640 Gramm, das Fruchtwasser war bereits grün.
Von Anfang an verweigerte er die Brust, ebenso den Schoppen. «Ich hatte eine gute Hebamme, doch alle waren mit Loris’ Verhalten überfordert», erinnert sich Lucia Graber. Sie wechselte mehrmals die Säuglingsmilch, den Sauger, versuchte es wieder mit der Brust, ohne Erfolg. «Mathis hatte ich zweieinhalb Jahre lang gestillt, wieso ging das bei Loris nicht?», fragte sie sich immer wieder. Auch die Kinderärztin wusste nicht weiter und überwies Loris sechs Wochen nach seiner Geburt ins Kantonsspital. Dort wurde ihm wegen seines schlechten Zustands umgehend eine Magensonde gelegt. Fortan gelangten die Nährstoffe über ein dünnes Schläuchlein durch Nase und Speiseröhre in den Magen des zarten Jungen.
Es folgten verschiedene Abklärungen, die alle kein Licht ins Dunkel brachten. Dass der Bub nur eine Niere hat, stellten die Ärzte schon kurz nach der Geburt fest, dies ist aber nicht die Ursache der Trinkverweigerung. Loris’ Milch wurde mit Maltodextrin angereichert, einem Kohlehydratgemisch, und nach einigen Wochen die Sonde entfernt, doch wirklich aufwärts ging es nicht. Kurz vor Weihnachten 2016 brachten die Eltern Loris wieder ins Kantonsspital. Er lag nur noch apathisch im Bettchen, bewegte sich kaum mehr. Erneut wurde eine Magensonde gesetzt. Einige Monate später, an seinem ersten Geburtstag, wog er dank der nun regelmässigen Sondenernährung immerhin 8,5 Kilo. Seine allgemeine Entwicklung war zwar leicht verzögert, Loris kroch aber bereits auf dem Boden herum und liebte es, Schubladen und Taschen auszuräumen.
Dass Babys oder Kleinkinder nicht essen oder trinken wollen oder können, ist gar nicht so selten. «Ungefähr jedes vierte Kind hat in den ersten Lebensjahren Essschwierigkeiten von unterschiedlicher Ausprägung, die verschieden lange dauern können», sagt Monika Strauss, Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Universitäts-Kinderspital Zürich. Manche Babys haben Mühe beim Übergang vom Saugen zum Essen mit dem Löffel, ebenso können mundmotorische, mundsensorische Probleme, Erkrankungen oder vorgängige Operationen der Grund sein.
Schwere Fütter- und Essstörungen mit bedrohlichem Gewichtsverlust wie bei Loris sind zum Glück selten. Nur 1,5 bis 2 Prozent der Kleinkinder sind betroffen. Fast immer sind es mehrere Gründe, die dazu führen, und sie sind eng mit der Person verwickelt, die hauptsächlich mit dem Kind zusammen ist, also meist mit der Mutter. Fachleute sprechen von Regulationsstörungen, wenn das Baby in den ersten Lebenswochen und -monaten Schwierigkeiten beim Essen oder Schlafen hat oder grundsätzlich in seinem Wohlbefinden gestört ist und viel schreit.
«Ein Baby hat noch kein Gefühl von sich selbst als getrenntes Individuum, es erlebt sich im Kontakt mit seiner Mutter oder seiner Bezugsperson», erklärt Strauss. Es spürt, wie es getragen, gefüttert, gepflegt und gestreichelt wird. Sind die Hände sanft, nervös, unsicher, feinfühlig? Es reagiert auf Blickkontakt, auf Mimik und Gestik, wenn die Eltern mit ihm reden und treten Unstimmigkeiten oder Missverständnisse auf, bringen sie das Baby schnell aus seinem Gleichgewicht. Auch eine Frau in ihrer neuen Rolle als Mutter ist unsicher und verletzlich. Schwangerschaft und Geburt haben vielleicht Stress verursacht, Paarkonflikte oder ökonomische Engpässe belasten, oder es fehlt die wohlwollende Unterstützung der Herkunftsfamilie. «Ein Baby kann deshalb nicht ohne sein Umfeld betrachtet werden», sagt Strauss. Doch auch es selber bringt etwas mit: «Das Kind ist nicht einfach ein weisses Papier, das von seiner Umgebung beschrieben wird.» Es hat bestimmte Anlagen und Bedürfnisse, ein ganz eigenes Temperament. Haben die Eltern Mühe, sich darauf einzustellen, aus welchen Gründen auch immer, werden sie nicht entsprechend unterstützt, können Regulationsstörungen zum chronischen Problem werden.
Im Sommer 2017 schlägt der behandelnde Gastroenterologe im Kantonsspital vor, Loris eine PEG-Sonde zu setzen. Diese hätte den Vorteil, dass sein Nasen- und Rachenbereich frei wäre, die Nahrung würde über einen Zugang im Rumpf direkt in den Magen geleitet. Lucia und Simon Graber wehren sich zuerst, die Lösung erscheint ihnen endgültig – als hätte das Spital die Hoffnung aufgegeben, dass Loris jemals essen lernen würde. Sie sind enttäuscht vom Kantonsspital und fühlen sich alleingelassen. Auch die Heilpädagogin, die auf Initiative von Lucia Graber mehrmals mit Loris arbeitete, hat keine andere Lösung. Die PEG-Sonde wird gelegt. Kurze Zeit später, mit 16 Monaten, macht Loris seine ersten selbstständigen Schritte.
An den meisten Kinderspitälern in der Schweiz werden Babys und Kleinkinder mit Regulationsstörungen auch psychotherapeutisch behandelt. Dies erfordert eine interdisziplinäre Zusammenarbeit, denn nur die psychologische Ebene anzuschauen genügt nicht. «Es braucht eine Logopädin, die darauf fokussiert, wie sich das Kind verhält, wenn es etwas im Mund hat, die erkennt, ob Kehlkopf und Mundraum sehr empfindlich sind und ob das Kind schlucken kann oder nicht», sagt Monika Strauss, die auf Säuglings- und Kleinkindpsychosomatik spezialisiert ist. Manchmal wird eine Ernährungsberaterin beigezogen. Wichtig ist auch der Gastroenterologe, der Wachstum und Körperfunktionen überwacht und letztlich die ärztliche Verantwortung trägt. «Wie gut einem Kind geholfen werden kann, hängt stark von der Zusammenarbeit dieses Teams aus Fachleuten ab», so Strauss.
Auch der Einbeziehung der Eltern kommt eine zentrale Bedeutung zu, sagt Daniel Bindernagel, Leiter der Spezialsprechstunde für Säuglinge und Kleinkinder der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienste St.Gallen. Trotz hohem Leidensdruck haben die Eltern manchmal Mühe, sich vertieft mit den Schwierigkeiten des Kindes auseinanderzusetzen. «Essen ist emotional hochbesetzt, denn Essen bedeutet überleben», sagt Bindernagel. «Gedeiht das Kind gut, ist die Mutter erfolgreich. Gedeiht es nicht, macht sie sich Sorgen und kämpft mit Schuld- und Schamgefühlen.»
Bei Regulationsstörungen richtet die Eltern-Kind-Psychotherapie ihr Augenmerk neben der Eltern-Kind-Interaktion auch auf die elterliche Biografie. Das Kind ruft mit seinem Sein und seinem Verhalten bestimmte Bilder aus der eigenen Kindheit in den Eltern hervor, die als «Gespenster im Kinderzimmer» bezeichnet werden; sie können eine den Eltern nicht bewusste Macht entfalten und eine gute Entwicklung des Kindes stören. In der Therapie mit den Eltern geht es darum, die «Engel im Kinderzimmer» zu finden und zu stärken.
Lucia Graber sagt von sich selbst, dass sie eine schreckliche Kindheit hatte. Ihre Mutter war depressiv, ist es heute noch. Bei ihrem Vater sei Gewalt ein Thema gewesen. Als Lucia drei Jahre alt war, trennten sich ihre Eltern; sie und ihr Bruder lebten fortan abwechselnd bei einem Elternteil. Heute hat Lucia keinen Kontakt mehr zu ihrem Vater, ihre Mutter hat Loris ein einziges Mal gesehen. Lucia: «Was mit meiner Mutter war, belastet mich zu fest, ich muss es komplett abtrennen. Simon und die Kinder bedeuten mir alles, dank ihnen muss ich mit Leuten wie meinen Eltern nichts mehr zu tun haben.» Doch die schwarzen Schatten reichen wie überlange Finger bis in die Gegenwart. Ihre Mutter habe früher oft gesagt, wenn sie nicht mehr leben möchte, esse sie einfach nicht mehr. «Diese Aussage erinnert mich stark an Loris. Dass er nicht isst, empfinde ich wie eine Bestrafung.»
Im Herbst 2018 wird Loris immer noch über die Magensonde ernährt; sechs- bis neunmal am Tag erhält er 190 Milliliter einer Spezialmilch. Er mag sie nicht und sagt «bähhhhh,», wenn er sie riecht. Trotzdem nimmt er zu, aber auch wieder ab, denn er erbricht oft.
Abgesehen von seinen Essschwierigkeiten ist Loris ein aufgestellter zweieinhalbjähriger Junge, der gerne Fussball spielt und sich freut wie verrückt, wenn sein Papa nach Hause kommt. Im September hatte Loris mit seinen Eltern einen ersten Termin bei der Kinderpsychiaterin Monika Strauss im Kinderspital Zürich. «Wir haben wieder Hoffnung, dass es mit Loris doch noch gut kommt», sagt Lucia Graber. Monika Strauss ist ebenfalls zuversichtlich.
**Alle Namen der Familie geändert.*