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Jünger des Postfaktischen
zvg
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Postfaktisch ist das Wort des Jahres. Zumindest wenn es nach der Organisation Oxford Dictionaries geht. Vorgestern hat der Wörterbücher-Herausgeber den Begriff zum internationalen Wort 2016 gekürt.
Er beschreibt die Tatsache, dass heute Gefühle und Eindrücke mehr Gewicht haben als nackte Fakten. Als Beispiel wird der Brexit genannt, bei dem sich viele Briten von ihren Emotionen leiten liessen und sich einige davon nach der Abstimmung ob der Konsequenzen die Haare rauften. Aber auch die Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten wird als Beispiel genannt. Kein Wunder, kursierten in den sozialen Medien vor der Wahl doch massenweise Fake-Stories und selbst Trump übertrumpfte sein früheres Ich immer wieder mit konträren Aussagen.
In der Schweiz könnte man die Annahme der Masseneinwanderungsinitiative und ihre Mutation zum Inländervorrang auch mit dem Wort postfaktisch in Verbindung bringen, immerhin musste auch da vielen Wählern klar gewesen sein, dass ein Konflikt mit internationalen Menschenrechten nicht einfach so zu ignorieren ist. Oder wenn ich jetzt mal so ganz spontan eine Person als Vertreter des postfaktischen Zeitalters bestimmen müsste, würde ich sagen: Gölä. Ein angeblicher Büezer-Rocker, der gegen Arbeitslose poltert, Halbwahrheiten (oder weniger) verbreitet und sich die Zeit zurückwünscht, [in der vermeintlich alles besser war] (http://www.aargauerzeitung.ch/leben/leben/goelae-provoziert-erneut-eine-ohrfeige-zum-richtigen-zeitpunkt-hat-noch-nie-geschadet-130721421 "http://www.aargauerzeitung.ch/leben/leben/goelae-provoziert-erneut-eine-ohrfeige-zum-richtigen-zeitpunkt-hat-noch-nie-geschadet-130721421").
Dass er nicht noch singt «Make Switzerland great again», ist geradezu erstaunlich.
Und ich habe auch in meinem engsten Familienkreis einen postfaktischen Zeitgenossen gefunden: meinen Stiefsohn. So wollte er mir kürzlich weismachen, Kim Kardashian habe gerade entbunden. Mein Bullshit-Detektor gab an. Und tatsächlich, es war nicht die Kim, sondern eine andere Kardashian. Auch glaubte er, mich mit falschen Fakten über die Gangsta-Rap-Kombo N.W.A., die sich auflöste, als ich nicht mal so alt war wie er jetzt, zu beeindrucken.
Uns Eltern glaubt er a priori nichts, wenn hingegen seine Kollegen lange genug auf ihn einschwatzen, plappert er es nach. Und weil sie minutenlang auf ihn eingeredet haben und meine Korrektur nur wenige Sekunden dauert, bleibt bei ihm das Falsche hängen. Das ist natürlich nicht seine Schuld. So sind Teenager. Und so waren sie wohl auch immer. Insofern ist das Phänomen der postfaktischen Zeitgenossen kein neues. Für die Wahrheit nur ein müdes Lächeln übrig haben, die Dinge so stark vereinfachen, dass es nicht mehr stimmt - so verhalten sich Unmündige. Wenn also vermehrt Erwachsene nicht mehr auf Argumente hören, sondern auf ihren Bauch oder Halb- und Unwahrheiten verbreiten, ohne den gesunden Menschenverstand zu gebrauchen, sprich sich so verhalten wie Teenager – dann sollte uns das sehr wohl zu denken geben.
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Man muss nicht alles den Eltern verraten. Hier ein Auszug:
Reto Hunziker ist 1981 im Aargau geboren, aber das muss noch nichts heissen. Er hat Publizistik, Filmwissenschaft und Philosophie studiert und auch das muss noch nichts heissen. Er arbeitet als freier Journalist und als Erwachsenenbildner und versucht daneben, dem ganz normalen Wahnsinn in einer Patchwork-Familie (Frau, Tochter und Stiefsohn) mit Leichtigkeit und gesundem Menschenverstand zu begegnen – das will was heissen. Alle Blog-Beiträge von Reto Hunziker finden Sie hier.