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Medizin
Impfschutz für die Kleinsten
Das Thema Impfen löst bei vielen Eltern Ängste und Skepsis aus. Eine Kinderärztin erklärt, was der Nestschutz leistet und wie das Piksen erträglicher abläuft.
Die meisten Eltern lassen ihre Kinder impfen – so wie es der Schweizerische Impfplan vorsieht. Dennoch fühlen sich einige überrumpelt, wenn schon wenige Wochen nach der Geburt der Termin für die ersten Impfungen in der Kinderarztpraxis ansteht. Kaum halten sie ihr Neugeborenes in den Armen, müssen sie es bereits mit einer Nadel piksen lassen. Das widerstrebt jedem Beschützerinstinkt.
Leider lässt sich das frühe Impfen nicht lange hinauszögern. Das liegt am zeitlich beschränkten Nestschutz. Dieser ist eine raffinierte Einrichtung der Natur: Während der Schwangerschaft und beim Stillen nimmt das Baby über die Plazenta mütterliche Antikörper auf, die es vor Krankheiten schützen. Über die Mutter wird das Kind also gewissermassen «geimpft» respektive immunisiert. Allerdings muss die Mutter die Krankheiten selbst durchgemacht haben oder dagegen geimpft worden sein.
• Einen vertrauten Teddy oder ein Nuschi zum Impftermin mitnehmen, um das Kind abzulenken.
• Das Kleine während der Impfung im Arm oder auf dem Schoss halten und mit ihm reden.
• Kurz nach dem Piks ein Mini-Gelpad auf die Stichstelle legen.
• Den Nuggi oder ein Fläschchen mitnehmen.
• Stillen zum Trösten nicht während, aber direkt nach der Impfung.
Der Nestschutz hat einen Haken
Die Schutzwirkung währt bei allen Infektionskrankheiten nur wenige Monate. Ist die Mutter gegen Diphtherie, Tetanus, Masern und Mumps geimpft, dauert der Schutz fünf bis sieben Monate fort, bei Röteln sind die Babys bis zum fünften Monat weitgehend sicher, und am Varizella-Zoster-Virus (Spitze Blattern) erkranken Babys meist erst nach dem vierten Monat. Doch bei Keuchhusten, Tuberkulose und dem Erreger HIB, der etwa Mittelohr-, Lungen- oder Hirnhautentzündungen verursachen kann, wird das Kind nicht mit Abwehrstoffen versorgt und baut entsprechend keinen Nestschutz auf. Selbst wenn die Mutter diese Krankheiten durchgemacht hat oder geimpft ist, sind im Immunsystem des Kindes nachgeburtlich keine Antikörper zu finden. Einzig beim Keuchhusten kann eine werdende Mutter während der Schwangerschaft geimpft werden und so ihr Kind in den ersten Monaten nach der Geburt schützen.
Dieser wissenschaftlich gut erforschte Mechanismus des abnehmenden Nestschutzes hat das Bundesamt für Gesundheit (BAG) und die Eidgenössische Kommission für Impffragen (EKIF) dazu bewogen, die Impfungen bereits im zweiten Lebensmonat zu empfehlen.
Sandra Burri, Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin in Bern, hat schon Hunderte von Säuglingen gepikst. Als Vorstandsmitglied von Kinderärzte Schweiz steht sie klar hinter dem Impfplan der EKIF. Ihre Lieblingsbeschäftigung ist es natürlich nicht, die Kleinen zu stechen: «Leider tut eine Spritze dem Baby weh – da muss man nichts schönreden», sagt sie im Videocall. Sandra Burri hat also viel Verständnis für Eltern, die mitleiden. Deshalb bereitet sie Mütter und Väter schon bei der Einmonatskontrolle auf das Impfen vor. Auch darauf, dass das Kind wahrscheinlich weinen wird. Manchmal sei die Empathie der Eltern so gross, dass vor allem Mütter selbst in Tränen ausbrechen.
Sandra Burri, Kinderärztin
Impfstoffe, die neu auf die Synopsis des Schweizerischen Impfplans gesetzt wurden:
Varizellen
Meist verläuft die Ansteckung mit dem Varizellenvirus (Spitze Blattern) glimpflich. Doch der Virus bleibt lebenslang in unseren Körpern zurück. Zu einem späteren Zeitpunkt kann er Gürtelrose auslösen, eine von starken Schmerzen begleitete Hauterkrankung. Wenn diese am Auge, Ohr oder im Gesicht auftritt, ist sie oft schwerwiegend. Geimpft werden Varizellen im 9. und12.Monat.
Meningokokken B
Meningokokken B-Viren verursachen sehr schwer verlaufende Hirnhautentzündungen. Es ist mit 42 Prozent der häufigste Typ, bisher wurden nur andere Meningokokken-Typen geimpft. Die Impfungen erfolgen im 3., 5.–6. und15.Monat.
Rotavirus
Der Rotavirusinfektionen sind sehr häufig und verursachen bei Kleinkindern Erbrechen und Durchfall, aber selten schwere Verläufe. Viele andere Viren lösen dieselben Symptome aus. Vorteil: Es ist eine Schluckimpfung. Nachteil: Die Nebenwirkungen können relativ schwerwiegend sein, darum muss in einem eng vorgegebenen Zeitfenster geimpft werden. Spitäler möchten mit der Impfung vor allem die Hospitalisationslast reduzieren.
RSV
Zurzeit gibt es in der Schweiz einen passiven Impfschutz (Antikörper) gegen das Humane Respiratorische Synzytial-Virus (RSV). Das Virus verursacht akute Erkrankungen der oberen und unteren Atemwege und ist besonders für junge Säuglinge und Frühgeborene gefährlich. Im Gegensatz zur (hoffentlich) im Herbst zugelassenen Impfung, muss der jetzige Impfstoffwährend der ganzen RSV-Saison monatlich (rund 6-mal) gespritzt werden und kostet sehr viel. Daher wird dieser nur Risikokindern verabreicht. Der neue Impfstoff hat eine Langzeitwirkung, muss nur einmal gespritzt werden und wird voraussichtlich für alle Neugeborenen im ersten Winter empfohlen.
Die Informationsplattform für Impffragen, Infovac, ist eine von Kinderärzt:innen betreute Plattform und bietet eine gute und schnelle Übersicht zu Krankheiten und Impfstoffen.
→ infovac.ch
Prozedere erleichtern
Wie also Babys und Eltern das schmerzhafte Prozedere erleichtern? Inzwischen gibt es viele Praxen, die dem Baby vor der Impfung eine kleine Portion Zuckerlösung verabreichen. Studien belegen, dass Zucker die Schmerzrezeptoren im Gehirn dämpft und die Kleinen weniger leiden. Sandra Burri wendet hin und wieder die Methode der « Simultanimpfung » an. Dabei sticht sie demBaby zusammen mit der Praxisassistentin gleichzeitig in beide Oberschenkel. So erlebt das Baby nur ein Schmerzereignis. Genau deswegen wechselte man über die Jahre hinweg von den Impfstoffen mit Einzel- hin zu jenen mit Mehrfachkomponenten – um die Kinder nicht häufiger als nötig zu piksen.
Vom Verabreichen eines Schmerzmedikamentes vor der Impfung raten Kinderärzt:innen ab. Auch das Auftragen von Eisspray lehnt Sandra Burri ab, da die Babyhaut dafür einfach noch zu empfindlich sei. Während der Impfung hält Sandra Burri es für ungünstig, das Baby zu stillen, da es dadurch das Wohlgefühl beim Nuckeln an der Brust mit dem Schmerzreiz am Bein verbinden könnte. Nach der kleinen Tortur darf das Kind jedoch gerne mit Muttermilch getröstet werden.
Skandinavische Länder impfen später
Es ist wichtig, dass sich die Eltern vorab Zeit nehmen, um die Unterlagen des BAG zum Impfplan anzuschauen und sich auch mit den potenziellen Erkrankungen auseinanderzusetzen, die sich ein ungeimpftes Kind einfangen könnte. Eltern, die dem Impfen völlig ablehnend gegenüberstehen, suchen die Praxis von Sandra Burri selten auf.
«Aber mit impfkritischen Eltern, die zu uns kommen, finden wir meist einen Weg.» Weshalb aber können die Basisimpfungen nicht wenigstens einen Monat später erfolgen – wie in Skandinavien? Dort wird die erste Spritze erst mit drei, und die zweite Dosis mit fünf Monaten gesetzt. «Es gibt ausgezeichnete Studien, die belegen, dass es in den nordischen Ländern nicht mehr erkrankte Kinder gibt», räumt die Kinderärztin ein. Einen Monat zuzuwarten würde also drin liegen, «aber zu den Folgen bei weiterem Hinausschieben gibt es schlicht keine Studien».