Aus dem Vaterland
«Ich will in den Himmel!»
Jeder Löffel Spinat eine gute Tat? Ein gut gemeintes Experiment im Kindergarten lässt einen Vater an der Nächstenliebe zweifeln.
Vor ein paar Wochen hat unsere Tochter den jüdischen Kindergarten begonnen. Dort lernt sie, nebst dem normalen Programm, die hebräischen Buchstaben und die jüdischen Festtage kennen. Vor ein paar Tagen ist sie heulend in mein Arbeitszimmer gerannt. «Ich will nicht in die Hölle! Ich will ins Paradies, in den Himmel! », schrie sie mich an. Ich war grundsätzlich einverstanden. Weil die Tochter aber nicht mehr aufhören wollte, zu weinen, fragte ich sachte, was ich mit diesem Berufswunsch zu tun habe.
Sie erklärte. Die neue Kindergärtnerin veranstaltet gerade eine Benimm-Aktion. Es geht um die guten Taten. Anscheinend ist da noch grosser Handlungsbedarf. Ab sofort werden die Eltern dazu angehalten, jeden Tag auf einem weissen Zettel die guten Taten ihrer Sprösslinge zu notieren. Das Mädchen mit den meisten Einträgen bekommt Ende Monat eine Tüte Paprika-Chips. Ich guckte meine Tochter an. «Und die blöde Rachel hat schon fünf Zettel in den Kindergarten gebracht und ich noch gar nichts!», begann sie wieder zu schluchzen. «Dann mache doch jetzt eine gute Tat», munterte ich sie auf.
Das Kind überlegte, rannte in die Küche und brachte mir ein lauwarmes Bier. Unwillig trank ich es aus und schrieb auf den Zettel: «Ruth hat mir ein warmes Bier von der Küche gebracht – toll!» Triumphierend rannte sie mit der Urkunde zu meiner erschöpften Frau und hämmerte auf ihren Rücken. Meine Frau schrieb: «Unsere liebe Ruth hat heute Abend versucht, mich zu massieren – weiter so!»
Ich musste schmunzeln. Hätte ich doch auch so eine gute Kindergärtnerin gehabt, damals. Ich werde wahrscheinlich nicht in den Himmel kommen. Das letzte Mal habe ich meine Frau in den Flitterwochen massiert.
Am nächsten Abend war unsere Tochter immer noch himmeltraurig. Die blöde Rachel hatte ebenfalls zwei gute Taten vollbracht: Sämtliche Steuerunterlagen ins Altpapier geworfen und das Handy ihrer Mami in der Badewanne gewaschen. Ängstlich guckte ich mein Mädchen an: Was für gute Taten werden ihr jetzt in den Sinn kommen? Ich ging in mein Zimmer und schloss die Türe zu. Vorher kündigte ich an, dass ich mit dieser Sache nichts mehr zu tun haben will. Ausserdem musste ich noch 21 Aufsätze korrigieren. Meine Frau guckte mich böse an.
«Ja?», brüllte ich. Meine Tochter, die ums Verrecken in den Himmel kommen will, klopfte seit fünf Minuten an die Tür. «Mir fallen keine Ideen mehr ein!» Ich versuchte sie zu trösten: «Du kommst sicher in den Himmel, ganz bestimmt.» Meine Tochter liess sich nicht beruhigen. «Aber die Rachel will ich dort nicht haben. Ich muss besser sein als sie. Was kann ich denn noch machen?» Ich schlug vor: Zimmer aufräumen, Zähne putzen, Pipi machen und jetzt ins Bett gehen. Sie überlegte. Nein, entschied sie, das wären keine guten Taten, das wären höchstens mittelgute Taten. Ich reagierte gereizt und zeigte ihr den Stapel Aufsätze, der noch korrigiert werden muss. «Geh bitte den ‹Sandmann› gucken!» Sie rief entzückt: «Ist das eine gute Tat?»
Ich wusste nicht mehr weiter und beratschlagte mich mit meiner Frau. Anscheinend litt sie noch mehr als ich. Für jeden Löffel Spinat beim Mittagessen verlangte das Mädchen einen lieben Vermerk. Und in der Migros liess sie extra ein rohes Ei fallen, um es wieder aufzuwischen: «Die liebe Ruth hat in der Migros ein aufgeschlagenes Ei aufgewischt! » Wir beschlossen den guten Taten ein Ende zu setzen. Am nächsten Morgen gaben wir unserer Tochter ein Geschenk für ihre Kindergärtnerin mit. Ein Buch. Es heisst: «Gute Mädchen kommen in den Himmel, böse überall hin.»