Glosse
Hilfe!
Unsere pädagogische Unbedarftheit in den Anfangsjahren kann man schon daran erkennen, dass wir unserer Tochter Nina einfach irgendeinen Vornamen gegeben haben, der uns gefiel. Ja, ich weiss heute selber, dass das ungefähr so verantwortungslos ist, als schickte man die Kinder per Zufallsgenerator irgendwohin in die Ferien. Aber von da kommen sie immerhin nach vier Wochen zurück. Den Namen hingegen behält man ein Leben lang! Wahrscheinlich deshalb stehen in jeder gut sortierten Buchhandlung zig verschiedene Vornamenbücher. Nein, nicht zig Exemplare eines Buches. Zig grundverschiedene Titel. Am profundesten erscheint mir heute das 528-seitige «Grosse Vornamenlexikon» mit Einträgen wie «Kan-do-ro: in Kenia und Tansania vorkommender männl. Vorn., der auf Suaheli Süsskartoffel bedeutet».
Seit die Zwillinge auf der Welt sind, weiss ich so etwas. Ja, Sie haben richtig gelesen: Zwillinge. Wobei das nicht das Problem war. Es haben schon viele Leute Zwillinge bekommen. Wir wussten, das würden wir schaffen. Die wirkliche Grauensnachricht: Wir bekamen zwei Jungen! Anfangs freuten wir uns auf die beiden. Bis uns wohlmeinende Freunde all diese Bücher zusteckten: «Kleine Jungs – grosse Not», «Die Jungenkatastrophe» oder «Jungs im Abseits». Bücher, die uns schon im Titel dezent zu verstehen gaben, wohin unsere Familie in den kommenden Jahren unweigerlich driften würde: nach unten, in Richtung Problemzone und soziales Abseits.
Jungs sind in den Ratgebern etwa das, was Muslime in den Medien sind: kaum integrierbar, gewalttätig, störrisch, gefährlich. Im Klappentext zu «Jungs im Abseits» heisst es: «Jungen sind zum Problem geworden. Das Buch handelt von diesen verstörten und rätselhaften Jungen. Sie sind eine Herausforderung. » Bisher haben wir (und damit meine ich uns alle!) sie nicht bestanden. Nach der aufrüttelnden Lektüre haben wir (und damit meine ich uns beide!) für unsere Söhne sofort Plätze an den umliegenden Förder- und Primarschulen reserviert.
Da uns in all diesen Horrorbüchern auch eingebläut worden war, dass Jungen strukturell, neuronal und emotional benachteiligt seien, haben wir mit ihnen von Geburt an konsequent Englisch gesprochen und überhaupt für klare Strukturen gesorgt: Zunächst einmal kauften wir die Bücher der beiden Angstmogule Bernhard Bueb und Michael Winterhoff, zweier Autoren, die damals gerade mit einer heilsamen Shock-and-Awe-Rhetorik in die verschnarchte Pädagogenzunft eingebrochen waren: Es muss wieder durchregiert werden in den Kinderzimmern. Wer sein Kind nicht im Alter von drei Monaten in eine Ganztagesbetreuung gibt, züchtet ein egoistisches Wesen heran. Gleich nach der Lektüre meldeten wir unsere Tochter in der Krippe mit den längsten Öffnungszeiten an. Nina protestierte lautstark dagegen, was uns Beweis dafür war, wie recht Winterhoff doch hatte: Wir hatten eine kleine Tyrannin an unserem Busen genährt. Dank Bueb war der Wille des kleinen Biests schnell gebrochen, es wehte jetzt eine steife, aber glasklare Brise durch die Wohnung, harte Kante statt Marmeladenmantsche am Frühstückstisch.
Für die beiden Jungs haben wir uns Annette Kast-Zahns Grundlagenwerk «Jedes Kind kann schlafen lernen» besorgt. Kast-Zahn ist die Supernanny der deutschen Familienschlafzimmer. Ihr Buch ist vollgestopft mit Tabellen, Zahlen und Diagrammen. Und sie beweist darin, dass Kinder nachts erst recht Tyrannen sind, weshalb man ihrem Weinen nicht nachgeben solle. Da meine Frau ein instinktiver Mensch ist, habe ich sie die ersten Nächte festgebunden, sie wäre sonst irgendwann aufgestanden und ins Kinderzimmer gegangen, so bitter, wie die beiden Jungs schluchzten. Meine Frau wollte die Methode des teuer erstandenen Buches in Frage stellen, indem sie mich gegen halb fünf Uhr morgens anzischte, ob es für ein Kind, mit dem die Eltern tagsüber liebevoll umgehen, nicht ein unverständlicher Schock sei, wenn sein Weinen im Dunkel plötzlich ignoriert wird. Wie auch immer, nach einigen Wochen verendete das Gewimmer, woraufhin wir sofort Kast-Zahns Sequels «Jedes Kind kann richtig essen» und «Jedes Kind kann Regeln lernen» kauften. Apropos Regeln: Als treuer Ratgeberleser lernt man schnell die unsichtbare Regel Nummer eins dieser Buchgattung: Jeder Autor, der über 250 Exemplare seines Buches verkauft, recycelt seine Erkenntnisse in Folgebüchern.
Nachdem in der New York Times stand, dass bei den amerikanischen Kinderbüchern der Marktanteil der Bilderbücher in den letzten Jahren von 35 auf 20 Prozent geschrumpft ist, weil immer mehr Eltern im Rahmen der Frühförderung textlastige Bücher verlangen, haben wir all die Bilderbücher aus dem Kinderzimmer verbannt, lasen den Zwillingen aus dem Telefonbuch vor, um das numerische Gedächtnis zu schulen, sprachen, wie gesagt, Englisch mit ihnen und zeigten ab und zu im Chinesischwörterbuch warnend auf die Zeichen für «Synapse» und «Zeitfenster ». Schnell stellten sich erste Erfolge ein: Als wir asiatisch kochten und ich den frühreifen Julius-Anaximander fragte, ob er mir Gewürze besorgen könnte, fragte er, ob ich Süd- oder Nordkoriander bräuchte.
Kevin-Demian hingegen machte uns Sorgen. Er konnte mit elf Monaten immer noch nicht stehen. Drei andere Jungen in seiner Pekip-Gruppe liefen da schon, ein viertes Kind zog sich immerhin am Stuhl hoch. Wir hatten Angst, nackte Angst, dass er in der Globalisierung unter die Räder geraten würde. Stellen Sie sich vor: Die Globalisierung steht vor der Tür und mein Kind kann nicht mal aufmachen.
Wie recht wir mit unseren Sorgen hatten, zeigte eine Forsa-Umfrage, bei der 78 Prozent der befragten Mütter angaben, dass man heute mehr Ängste haben müsse als früher. Schlaumeier werden nun einwenden, dass die Verbrechensraten nicht gestiegen sind und die Unfallrate gar gesunken ist. Aber bitte, seit wann braucht man denn Fakten, um Ängste zu haben?
Als Kevin-Demian mit zwölf Monaten immer noch nicht stehen wollte und auch noch keine Diphtonge bilden konnte, sind wir zum Kinderarzt Remo Largo gefahren. Dieser sagte, nachdem wir ihm von unseren Englisch- und Chinesischbemühungen erzählt hatten, Gras wachse nicht schneller, wenn man daran ziehe.
Auf der einen Seite war ich empört: Für so ein schlunzig herbeigegoogeltes afrikanisches Sprichwort geb ich doch nicht extra einen Freitag ein. Andererseits hiess es plötzlich auch in den Medien, die ganze Frühförderung bringe überhaupt nichts, die Synapsen könnten das in dem Alter noch gar nicht verarbeiten. Wir sollten mit unseren Kindern lieber bewusst im Moment leben. Also besorgte ich Bücher wie «Das Dalai-Lama-Prinzip für Eltern», in dem «die fernöstliche Philosophie auf das Thema Erziehung übertragen» wird. Darin steht der Satz: «Die Tatsache, dass ich mit Finn im Karussell sitze, ist die wunderbare Wirklichkeit. Sie findet hier und jetzt statt.» Sofort stellten wir alles um. Unsere Erziehung fand nun ganz’n’gar im Hier’n’Jetzt statt.
Mein Lieblingsbuch aus dieser Phase, «Ein Löffelchen voll Zucker», macht aus dem Alltag ein Reich voller klitzekleiner Wunder: «Ist Ihnen auch schon aufgefallen, dass Putzen mit Musik viel besser geht, oder dass wahnsinnig süsse, kleine Seifenblasen entstehen, wenn man die Spülmittelflasche wieder hinstellt?»
Ganze Nachmittage sass ich von da an schmunzelnd im Lehnstuhl, ein Pfeifchen im Mund, Filzlatschen an den Füssen, und freute mich am jugendlichen «Drive» dieser Werke. Immer wieder rief ich laut lachend in die Küche: «Liebling, nun hör dir nur doch mal das an!» Meine Frau hatte an der Spüle leider kein Ohr dafür – und deshalb auch kein Auge für all die Seifenbläschen in ihrem Hausfrauenleben. Das ist genau der Unterschied: Wer diese Ratgeber liest, dessen Blick ändert sich. Man muss nur lange genug hinschauen, dann erkennt man im Teppichgrau des Lebens so manchen roten Faden! Als ich dieses Bonmot in die Küche rief, kam meine Frau und brüllte mich an, die Fäden auf dem Teppich seien nur ein Zeichen dafür, dass hier seit Wochen nicht gestaubsaugt worden sei, ich Idiot solle mir lieber mal Gedanken über meine Vaterrolle machen.
Sofort lief ich in unseren Buchladen. Die Augen gingen mir über. Meterweise Vaterbücher. Einmal mehr dachte ich: Was für ein Glück, in diesen Zeiten zu leben. Was die Wiener Klassik für die Musikgeschichte war, das ist das erste Jahrzehnt des neuen Jahrtausends für die Ratgeberkultur. Ich frage mich, wie all die Väter zwischen 500 000 vor Christus und 2010 auch nur rudimentär ihre Vaterrolle ausfüllen konnten – ohne «Vater werden – Das letzte Abenteuer», ohne «Überleben an der Wickelfront» und ohne «Wickelpedia – Alles, was man(n) übers Vaterwerden wissen muss».
Es geht auch anders
Nein, wir finden nicht alle Ratgeber schlecht. Im Gegenteil: Die folgenden drei Werke empfehlen wir wärmstens, allein schon, weil sie nicht so tun, als gäbe es eine Patentlösung für jedes Elternproblem und eine Paradestrategie für jedes Kind.
1. «Babyjahre» und «Kinderjahre» von Remo Largo (Serie Piper, 2010/2000): Die Standardwerke des renommierten Schweizer Kinderarztes sind längst zu Klassikern geworden, die Standard bleiben werden. Das allerbeste Heilmittel für verunsicherte Eltern.
2. «Pubertät – wenn Erziehen nicht mehr geht» von Jesper Juul (Kösel-Verlag, 2010): Der dänische Familientherapeut predigt nur eine Sache: Gelassenheit. Davon kann man im Alltag mit Pubertierenden tatsächlich nicht genug beweisen.
3. «Der Leitfaden für faule Eltern» von Tom Hodgkinson (Rowohlt Taschenbuch, 2011): Fernseheraus, Gummistiefel an und raus. Der Tenor ist nicht neu, die Tipps simpel, aber es lohnt sich, sie wieder neu zu entdecken.
Bald wusste ich alles. Ich wurde zum Superpapa. Meine Frau durchlief währenddessen verschiedene Aufbaukurse zur besseren Körperwahrnehmung der Kinder. Yoga für Kinder, Feldenkrais und Rolfing – eine komplementärmedizinische manuelle Behandlungsmethode, die auch Strukturelle Integration genannt wird – gehören ja eh dazu. Wertvoll war uns aber auch «Jin Shin Jyutsu – Heilsame Hände für Ihr Kind. Eine uralte Heilkunst aus Japan zur Harmonisierung der Lebensenergie. Durch gezieltes Auflegen der Hände an den sogenannten Energieschlössern wird das Immunsystem gestärkt.» So machten wir gemeinsam an den Energieschlössern unserer Kinder herum, ich als eine Art grosser Bruder, meine Frau als Freizeitcoach.
Es war mittlerweile ohnehin wie eine Droge. Hat man erst mal angefangen mit den Ratgebern, kann man kaum noch aufhören. Plötzlich diese Übersicht! Alles erodiert, die Volksparteien, der politische Gestaltungsspielraum, die Umwelt – aber schlagen Sie einen Elternratgeber auf, und alle Probleme schrumpfen auf die Grösse blassblauer Powerpünktchen: «Das Erziehungs-ABC», «Der Elternknigge», all das signalisiert einem auf freundlich wärmende Weise Ordnung und Übersicht. Die Bücher nehmen uns hilflose Eltern in den Arm und sagen, schau, was ist schon die Katastrophe der amerikanischen Immobilienblase gegen das Wunder einer Spülblase?
2003, in dem Jahr, in dem wir einstiegen in die Ratgeberkultur, erschien pro Woche ein Buch. Mittlerweile sind es so viele, dass es schon rein rechnerisch unmöglich ist, all diese Werke zu lesen. Deshalb verständigten wir uns darauf, dass wir die Lektüre aufteilen: Wenn meine Frau brüllte, es gebe jetzt Haue, sagte ich, Küblinger-Dolbenhuber zitierend, es sei wunderbar, wenn die Kinder sich derart kreativ ausleben. Und was sei gegen ein totes Eichhörnchen im Kühlschrank einzuwenden? Eine Woche lang sorgte sie für Zucht und Ordnung, ich für Liebe und Geborgenheit, dann machte ich wieder auf chinesischen Drill und sie auf einfühlsamen Diskurs. Mag sein, dass das verwirrend war für unsere Kleinen, wir hätten unser Pensum aber sonst einfach nicht mehr bewältigt.
Vor einigen Wochen dann wurden wir für unseren pädagogischen Fleiss belohnt: Der Verband der deutschen Erziehungsratgeber schrieb, ich sei mittlerweile einer seiner emsigsten Kunden, zum Dank würden sie mich einladen in ihre Druckerei in Norditalien. Ich fuhr los in die Gegend hinter Como. Dort stand eine Lagerhalle und ein winzig kleines Büro. Darin war ein Computer, der alle deutschen Erziehungsratgeber eingelesen hat und per Zufallsgenerator alle paar Sekunden immer neue Contentbatzen zu je 160 Seiten erstellt. Hinten kommen die Bücher raus. Ich war fassungslos und sagte, aber das müsse doch auffliegen. «Ach was», grinste der Geschäftsführer, «die Leute vergessen nach ein paar Wochen, was genau drinsteht in solchen Büchern, die ganze Branche ist auf die Vergesslichkeit der Kunden angelegt; haben Sie denn noch nie vom Konzept des Book on demenz gehört?»
Er drückte mir ein druckfrisches Werk in die Hand. In dem Buch hiess es, wir Eltern sollten «nur noch der Stimme unseres Herzens folgen». Ich sass später am Autobahnrand und versuchte auf mein Herz zu lauschen, aber da war nichts mehr. Nur noch ein Loch, in dessen Mitte stumm ein Fragezeichen pulste.
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