Entwicklung – Stottern
Herzklopfen auf der Zunge
Plötzlich war es da, ohne Vorzeichen: Die vierjährige Madeleine sprach nicht mehr flüssig. «Wwwwann gggehen wir denn auf den Spielplatz?» «Schau mmmal, Mamma, wawawas ich da Schönes gebaut habe.» Erst dachten die Eltern, das gibt sich wieder. Denn Madeleine hatte bisher ganz normal gesprochen. Auch zwischendurch sprach sie wieder ganz flüssig. Doch das Stottern kam wieder und wollte nicht mehr weggehen. Wenn Kinder holprig sprechen, erschrecken viele Eltern. Dabei ist Stottern an sich noch keine Auffälligkeit, bei der die Alarmglocken losgehen müssen: Bei etwa zehn Prozent aller Kinder zwischen dem dritten und vierten Lebensjahr entstehen im Laufe der Sprachentwicklung solche Sprechunflüssigkeiten (Lesen Sie auch: The Kid's Speech). Es gibt Kinder, die ganz plötzlich sehr starke Auffälligkeiten zeigen. Doch oft ist es so schnell, wie es gekommen ist, auch wieder vorbei.
Wann aber steckt mehr dahinter als entwicklungsbedingte Sprechunflüssigkeiten? Wann soll man reagieren und wie? «Unser Messbarometer ist die Elternsorge», sagt Alexander Zimmermann, Leiter Logopädie der Stimm- und Sprachabteilung am Inselspital Bern. «Sobald Eltern sich Sorgen machen, sollen sie sich an Fachleute wenden.» Manche Eltern würden schnell reagieren, bereits in den ersten Tagen der Auffälligkeiten. «Ein Telefongespräch kann dann Ängste nehmen und beruhigend wirken», so Zimmermann. Andere melden sich jedoch spät, nach Monaten, wenige zu spät, nach Jahren erst. «Eltern sind manchmal von vielen Kräften hin- und hergerissen», schreibt Jürg Kollbrunner, klinischer Psychologe und Psychotherapeut im Ratgeber «Stottern ist wie Fieber». «Sie hoffen, dass sich das Anstossen von selbst verlieren wird (...). Sie möchten es allein schaffen, wissen aber nicht genau wie. Und nicht selten schämen sie sich, dass in ihrer Familie ein
solches Problem überhaupt existiert.» Denn der gesellschaftliche Druck ist enorm – Stotterer werden oft als dumm abqualifiziert und ausgelacht.
Sind die Eltern Schuld?
Grundsätzlich gilt: Je eher man Sprechunflüssigkeiten abklärt, desto besser. «Wenn die Auffälligkeiten länger als drei Monate dauern, ist eine logopädische Abklärung empfehlenswert», so Alexander Zimmermann. Eine frühe Therapie ist die beste Chance auf Erfolg. «In der Mehrheit werden stotternde Kinder heute mit einer Verhaltenstherapie behandelt», schreiben die vier Autoren Jürg Kollbrunner, Psychologe, Sandra Fritschi, Logopädin/Sprachheilpädagogin, Eberhard Seifert, Facharzt Phoniatrie und Pädaudiologie und Alexander Zimmermann in der vierteiligen, 2010 abgeschlossenen, Studie zum Thema «Stottern als familiäre Kommunikationsstörung».
«Die Verhaltenstherapie basiert auf der Annahme, dass Stottern vererbt oder durch eine minimale Hirnschädigung entstanden sein könnte.» In der Verhaltenstherapie konzentriere man sich daher primär auf flüssigeres Sprechen durch Atemübungen, sprechrhythmischen Übungen und Entspannungstechniken. Für die Autoren ist diese Therapie als alleinige Massnahme der falsche Ansatz. Mit der Studie wollten die Fachleute beweisen, was sich bisher in der Theorie und in eigener Praxis bestätigt hatte, aber nie abschliessend untersucht wurde: «Stottern ist ein Zeichen eines familiären Ungleichgewichts. In allen für die Studie untersuchten 13 Familien waren emotionale Defizite und Unsicherheiten vorhanden.» Also sind Eltern Schuld, wenn ihr Kind stottert? «Wir suchen nicht nach Schuld; wir wollen herausfinden, was geschehen ist und vor allem, was man anders machen kann und muss, damit sich das emotionale Ungleichgewicht zwischen Kind und Eltern verbessert», sagt Alexander Zimmermann. Natürlich würden viele Eltern erst mal erschrecken, sich angegriffen und verletzt fühlen. «Doch nach ersten erklärenden Gesprächen sind viele Eltern heute offen für eine Zusammenarbeit», so Zimmermann.
«Stottern beginnt meist im dritten oder vierten Lebensjahr, der Trotz- und Ichfindungsphase, dem Erzählalter», so Alexander Zimmermann. Das Kind erkundet seine Umwelt, kann Wut mit Worten ausdrücken, Wünsche werden lautstark geäussert. Freude kann genauso überborden wie Ärger und Trauer. Es merkt, dass es mit Worten Macht ausüben kann. Es ist die erste Ablösungsphase.
Wenn Eltern nun auf solche Emotionen nicht eingehen können, sondern fast ausschliesslich abweisend reagieren, wenn sie beispielsweise Wutausbrüche unterbinden: «Sei ruhig, sonst musst du ins Zimmer!» – Übermässige Freude dämpfen: «Es reicht jetzt, beruhige dich mal wieder.» – Verletzt reagieren, wenn das Kind sagt: «Du bist blöd.» – «Dann gehe ich halt weg, wenn du mich blöd findest.» – Dann stürzen sie das Kind in ein Gefühlschaos, in Ohnmacht und Verwirrung. Es erkennt, dass überschwengliche Gefühle den Eltern nicht gefallen, weiss aber nicht, wann und warum. «Das Kind lernt in diesem Gefühlschaos nicht, sich selber zu spüren, es wird sich selber fremd», so Zimmermann. In der Unsicherheit, was gesagt werden darf und was nicht, stolpern dann die Wörter aus dem Mund heraus. Das Kind beginnt zu stottern.
Alexander Zimmermann und sein Team in Bern bieten eine Therapie auf psycho- und familiendynamischer Grundlage für die ganze Familie an: die logopädische Spieltherapie für die stotternden Kinder und Elterngespräche. «Kinder stottern interessanterweise nicht, wenn sie mit oder durch Stofftiere sprechen, wenn sie mit sich selber sprechen oder im Spiel eine Rolle übernehmen», erklärt Alexander Zimmermann. «Im Laufe der Spieltherapie soll das Kind während des freien Spielens, Gestaltens und im Rollenspiel langsam lernen, seine Gefühle frei äussern zu dürfen, zu sagen, was es denkt, hemmungslos, ohne Angst vor negativen Reaktionen. Mit der Zeit lernt es, eine eigenständige Persönlichkeit zu sein», so Zimmermann.
In den Elterngesprächen werden die Mütter und Väter ermutigt, hinzuschauen, was passiert ist. Denn meist spielen Verletzungen und Entbehrungen in der eigenen Kindheit eine wichtige Rolle. «Wir ermutigen sie, ihre Beziehung zu ihren eigenen Eltern und zu ihrem Partner anzuschauen. Und wir zeigen auf, wie sie lernen können, auf ihr Kind positiv und gefühlvoller zu reagieren, damit es sich freier entwickeln kann», so Zimmermann. Wenn das Familienklima das Stottern beeinflusst, fragt sich, warum nicht alle Kinder einer Familie stottern? Alle leben doch im gleichen Umfeld? «Jedes Kind wird in einer anderen Konstellation in eine Familie hineingeboren. Und jedes Kind ist anders. Das stotternde Kind ist halt in seiner Sprachlichkeit sehr sensibel», erklärt Alexander Zimmermann.
Ist Stottern heilbar?
Mit den Ergebnissen der Therapien ist Alexander Zimmermann zufrieden. «Bei Kindern im Vorschulalter stellen wir nach einem Jahr Therapie eine deutliche Verbesserung fest. Die Beziehung der Eltern zu ihren Kindern wurde gefühlvoller und entspannter.» Bleibt die Frage: Ist stottern heilbar? Dazu Alexander Zimmermann: «Bei kleinen Kindern ist sicher viel Veränderung möglich, in dem Sinne, dass sich das Sprechen und Verhalten zwischen Eltern und Kind verflüssigt. Viele Frühinterventionen können erfolgreich abgeschlossen werden.» Bei Jugendlichen und Erwachsenen stehe aber in der Therapie vor allem der Umgang mit dem Stottern im Vordergrund.
So können Eltern helfen
Wenn das Kind stottert
- Ins Gesicht schauen und ausreden lassen.
- Nicht unterbrechen. Die Aussage ist wichtiger als das Wie.
- Flüssiges Sprechen nicht loben.
- Bei Fachleuten Rat holen.
Besser nicht sagen
- Überlege zuerst, bevor du sprichst.
- Atme tief durch und versuchs noch mal.
- Sprich mir nach.
- Sprich langsam.
- Singe das, was du gerade sagen willst.