
Mara Truog
Familienleben
Diese Grosseltern stellen für die Enkel ihr Leben um
Sie stossen Kinderwagen, Spielfiguren übers Schachbrett – und Schaukeln an. Schweizer Grosseltern betreuen ihre Enkel 160 Millionen Stunden jährlich. Diese drei Grossmütter gehen noch einen Schritt weiter: Sie krempeln für die Enkel regelrecht ihr Leben um.






«Wollen wir fliegen, Joah?», fragt Lotti Kubli (66), und schon wirbelt sie mit dem Enkel im Arm mehrmals um die eigene Achse. Der Junge lässt den Kopf in den Nacken fallen, er lacht, gluckst und strahlt über das ganze Gesicht. Man muss keine Fachperson sein, um zu erkennen, wie glücklich der Sechsjährige ist.
In vielen anderen Bereichen aber braucht Lotti Kubli an den zwei Betreuungstagen mit Joah genau das: viel Wissen und Erfahrung, um auf die Bedürfnisse ihres Enkels einzugehen. Denn Joah kam mit einer Behinderung zur Welt.
3 Generationen, 1 Wohnung
Flugzeuge spielen in der 4½-Zimmer-Wohnung der Grossmama Doris Bättig (62) seit Neuem ebenfalls die Hauptrolle. In verschiedenen Grössen und Modellen tummeln sie sich neben Polizeiautos und Baggern auf dem Wohnzimmerboden, wo der zweijährige Jamal abends mit Grossmama spielt, während der Grossvater meist noch an einem Konzert ist, Jamals Mama Znacht kocht und der Papa von der Arbeit kommt. Die Grosseltern Bättig teilen ihre Wohnung im Zürcher Quartier Saatlen mit der Familie der Tochter und wohnen quasi mit Kind, Kindeskind und Kegel unter einem Dach.
Auch die Passerinis haben ihre Wohnsituation geändert. Madelaine (54) und Thomas (56) Passerini sind vor drei Jahren vom grosszügigen 7 ½-Zimmer-Einfamilienhaus, das sie einst für ihre Familie gebaut haben, in eine kleinere 4 ½-Zimmer-Wohnung umgezogen und haben das Einfamilienhaus ganz der Tochter Deborah mit deren Mann und den Kindern Valentin (4), Luisa (fast 2) und dem Baby, das dieser Tage auf die Welt kommt, überlassen.
Dreimal Grosseltern, dreimal unterschiedliche Familiensituationen – und eine Gemeinsamkeit: Das Engagement der Grosseltern geht hier weit über das übliche Mass hinaus: Für die Enkelkinder haben sie das eigene Leben regelrecht auf den Kopf gestellt.
Jahrhundertelang spielten Omas und Opas in der Familienkonstellation kaum eine Rolle. Das lag an der geringen Lebenserwartung: «Um 1900 lebten bei der Geburt der Enkel die Hälfte der Grosseltern nicht mehr», erläutert der Soziologe und Alters - forscher François Höpflinger. Im Laufe des 20.Jahrhunderts habe man die Grosseltern zwar immer öfter erleben können, jedoch meist als betagte, wie Höpflinger formuliert, «passive» Personen: «Sie sassen auf dem Ofenbänkchen und erzählten Geschichten.» Geschichten, in denen sie selbst kaum vorkamen, da reale Vorbilder fehlten.
Früher erlebte man Grosseltern als betagte, passive Personen
Eine Ausnahme ist das Märchen vom Rotkäppchen. Darin stapft tapfer das kleine Mädchen einen gefahrvollen Weg durch den Wald, um der alten, kranken Grossmutter Lebensmittel zu bringen. Und selbst noch bei Astrid Lindgren teilten die Kinder aus Bullerbü den einzigen und darum äusserst begehrten Grossvater gerecht unter sich auf, wenn es darum ging, dem beinahe Erblindeten zu helfen: ihm Hustenbonbons zu kaufen, den Christbaum zu schmücken oder aus der Zeitung vorzulesen.
Welche Welten im Vergleich zu heute! Denn gegenwärtig sind es die Omas und Opas, die helfen, mit anpacken, sowie selbst lange Wege – ob durch grüne Wälder oder graue Autobahnen – auf sich nehmen, um Enkel zu hüten. Auf das Konto von Grosi und Co. gehen jährlich sage und schreibe 160 Millionen Stunden Betreuungsstunden, wie das Bundesamt für Statistik 2018 bekannt gab. Das entspricht täglich 438 356 Arbeitsstunden sowie einem finanziellen Ertrag in Höhe von 8,146 Milliarden Franken jährlich.
Aber das ist noch nicht alles: Weil der sechsjährige Joah wegen seiner Behinderung nicht laufen kann, trägt Lotti Kubli ihren Enkel auch mal in ihre Wohnung im vierten Stock. «Das ist kein Problem», erklärt die zierliche Frau und lacht. An ihren Enkel-Tagen ist Lotti Kubli auch sonst überall: Für Maël (8) gibt es Zvieribrot mit zweimal Nachschlag, dazwischen füttert die Grossmutter jedesmal Joah, bringt ihm einen anderen Löffel, damit er selbst essen kann, fragt die Knaben nach ihren Erlebnissen in der Schule, nach kalten Händen oder heissen Gelüsten – etwa, als Maël heimlich Gummibärchen stibitzt. Ja, sogar auf Hamster Timi, der gerade Auslauf geniesst, hat sie ein Auge, damit er nicht wieder etwas anknabbert. Ihre wöchentlichen zwei Hütetage beginnt sie um Punkt Sieben, und im Laufe des Zwölf-Stunden-Tages nimmt sich Lotti Kubli auch mal Balkonpflanzen, Buntwäsche und dem Bügeleisen an. «Ich will den Vieren Zeit als Familie ermöglichen», schildert sie ihr Engagement und fügt fast entschuldigend hinzu: «Ich brauche sehr wenig Zeit für mich.»
Der erste Enkel mit 55
Im Drei-Generationen-Haushalt von Doris Bättig setzt man in Sachen Hausarbeit auf das Modell «kollegiale Arbeitsteilung»: Grossmama Doris wäscht ab, Mama Michelle kocht, Enkel Jamal schaut vom Küchenschemel aus zu. Auch er hat sich ein Ämtli ausgesucht. «Beim Znacht füttert er mich mit Salat», erzählt Doris Bättig. «Er ist dabei richtig eifrig, ich muss aufpassen, dass er mir mit der Gabel nicht die Zunge pierct.»
Kameradschaftlich geht es auch in der Wohnung Passerini zu und her – und die Hausarbeit den drei Mitbewohnern von der Hand, oder vielmehr: von den sechs Händen. Denn nach dem Umzug vom Einfamilienhaus in die Wohnung haben Madelaine und Thomas Passerini mit dem jüngsten Sohn, der noch studiert, eine Familien-WG gegründet. «Das funktioniert gut», meint Madelaine Passerini, die in der Kulturförderung arbeitet. «Jeder beteiligt sich am Haushalt, wenn auch wir Älteren etwas mehr. Wir haben alle einen intensiven Alltag.»
Heute sind Schweizer Frauen bei der Geburt des ersten Enkels im Durchschnitt 55 Jahre alt. Sie stehen also mitten im Berufsleben. Madelaine Passerini lag mit ihren gerade mal 50 Jahren deutlich unter dem Durchschnitt, auch ihr jüngster Sohn war erst 21 und wohnte noch zu Hause, als seine Mutter zur Grossmutter wurde. «Ich fand es sehr schön, Grossmama zu werden. Aber ich hatte mich gerade auf einen Lebensabschnitt ohne kleine Kinder eingestellt und musste diesen abschliessen, bevor er begonnen hatte. Ich fühlte mich unweigerlich älter.» Ihr Mann Thomas war damals 52 und kalauerte: «Meine Tochter kriegt ein Kind, nicht ich werde Grossvater.»
Wunsch-Enkelkinder
Anders erging es Doris Bättig: «Ich war genau im richtigen Alter, um Grossmutter zu werden», erinnert sich die 62-Jährige zurück an den Tag vor knapp drei Jahren, als sie mit der damals 17-jährigen Tochter wegen einer Erkältung zum Arzt ging. «In der Praxis wollte sie plötzlich einen Schwangerschaftstest machen», erzählt die heutige Grossmutter. «Die Arztgehilfin brachte den Test mit einem big smile im Gesicht zurück – da habe ich einfach mitgelacht.»
«Für die meisten ist es das absolute Highlight in ihrem Leben, Grosseltern zu werden. Zu sehen, wie die familiale Generationenfolge fortgesetzt wird, ist einfach ergreifend», erklärt Psychologin Pasqualina Perrig-Chiello. Eine bedeutende Rolle spielt dabei auch, dass sich das zahlenmässige Verhältnis zwischen Grosseltern und Grosskindern mit den Jahrhunderten verschoben hat: Früher waren Familien mit fünf Geschwistern keine Seltenheit, umgekehrt sah es mit den Grosseltern aus: Sie hatten Seltenheitswert. Heute sind die Verhältnisse anders: Manches Kind erlebt noch alle vier Grosseltern. Dafür bringen Schweizerinnen im Durchschnitt gerade mal 1,5 Kinder zur Welt. Die Folge? Während früher eine Grossmutter gut und gerne anderthalb Dutzend Enkel zu den ihren zählen konnte, ist heute oft ein einzelner Enkel ein Fall für zwei – nein, sogar für vier Grosseltern. «Der Kuchen, von dem die Grosseltern ein Stück wollen, wird kleiner», veranschaulicht es der Soziologe und vierfache Grossvater François Höpflinger augenzwinkernd. Neben das in der heutigen Gesellschaft etablierte Bild vom ersehnten Wunschkind gesellt sich immer häufiger auch das des ersehnten Wunsch-Enkelkinds.
Pasqualina Perrig-Chiello schildert, warum: «Ein Grosskind ermöglicht der Grosselterngeneration höchst erfreuliche Erfahrungen und sinnstiftende Aufgaben, also eine willkommene neue Rolle.» Es ist eine Rolle, die Grossmutter Doris Bättig mit viel Bauchgefühl, Optimismus und Gelassenheit ausfüllt. Schon vor der Geburt des Enkels Jamal habe sich in der Familie Bättig vieles spontan ergeben. Etwa, als eine Freundin der Tochter in der Pubertät bei Bättigs einzog. Später, als Tochter Michelle mit ihrem Freund keine Wohnung fand, teilte man die elterliche Wohnung kurzerhand mit dem jungen Paar. «Es war Michelles Nest. Und mittlerweile ist es eben das Nest ihrer kleinen Familie», meint Grossmama Doris, die bis heute als Psychiatriepflegerin arbeitet. Zukunftsperspektiven und Pläne en détail absprechen? «Ich nehme es lieber, wie es kommt», meint Doris Bättig.
Anders sieht es bei den Passerinis aus. «Wir können alles ansprechen, Konflikte werden diskutiert. Das ist etwas, das unsere Familie von Anfang an gemacht hat», erzählt Madelaine Passerini. Auch das Planen der neuen Wohnsituation wurde intensiv diskutiert: «Es war fast ein Familienprojekt», fasst die heute dreifache Grossmutter zusammen. Dies, weil die Passerinis neben Tochter Deborah zwei weitere Kinder haben. «Als Deborah fragte, ob sie das Elternhaus mieten kann, haben wir das mit allen Kindern gemeinsam durchgerechnet und offen diskutiert.» Dazu gehörte auch der finanzielle Aspekt, «schliesslich gehen mein Mann und ich nun aufs Alter zu.» Dass sie beide trotz mittlerweile erwachsener Kinder finanziell zurückstecken müssen, sehen die Grosseltern Passerini gelassen. Sie müssen schmunzeln, als sie vorrechnen: «Wer reich werden will, sollte nicht auf den Faktor Kinder setzen. Man kann diesen Wert überhaupt nicht mit Geld vergleichen.»
Familiensolidarität ist gross
Genauso empfand es auch Grossmama Lotti Kubli. Damals, als sie ihr Arbeitspensum in einer Bäckerei um zwei Tage reduziert hat, weil sich nach der Geburt von Enkel Joah abzeichnete, dass er nicht gesund ist. «Wir haben uns gemeinsam mit der anderen Grossmutter zusammengesetzt und besprochen, wer was übernehmen kann», erklärt sie. «Meine Tochter Esther hatte studiert und mit dem ersten Kind weiter gearbeitet. Ich wollte nicht, dass sie nun alles aufgibt und sieben Tage die Woche nur Kinder hütet», erinnert sich Lotti Kubli an ihre damaligen Gedanken. Für sie stand fest: «Wenn Esther ein behindertes Kind hüten kann, dann kann ich das auch.»
Was bewegt Grosseltern dazu, für die Enkelkinder das eigene Leben umzukrempeln? Soziologe François Höpflinger sieht dafür mehrere Ursachen: «Die Familiensolidarität spielt eine grosse Rolle. 70 Prozent der Grosseltern geben an, starke Verpflichtungsgefühle zu haben.» Oder, wie der Volksmund weiss: Blut bindet stärker als Wasser – und offenbar nicht nur stärker, sondern auch länger – mit einer geradezu generationenübergreifenden Bindekraft. Grossmutter Madelaine Passerini erzählt: «Die Beziehung zu meinen Kindern ist bedingungslos und ohne jede Erwartung. So eine innige Beziehung erlebe ich ausser mit meinem Mann nur noch mit meinen Enkeln. Es ist sehr schön.» Wohl deshalb werden aus zarten familiären Banden mit der Geburt eines Enkels schon mal reissfeste und bruchsichere Stahlseile «mady in family». Psychologin Pasqualina Perrig-Chiello bestätigt: «Grossmütter setzen sehr oft sozusagen ihre elterliche Arbeit fort und wollen ihre erwachsenen Töchter oder Söhne entlasten.»
Helfen gibt ein gutes Gefühl
Und angesichts besonderer Umstände greifen sie dabei schon mal zu besonderen Massnahmen – wie das bei Lotti Kubli, Doris Bättig und Madelaine Passerini der Fall ist. In Oma und Opa deswegen gleich eine familieninterne Form von Mutter Teresa zu sehen, sei dennoch verfehlt, meint die Psychologin: «Enkel zu unterstützen ist nicht nur altruistisch, sondern in hohem Mass eigennützig – sozusagen zur eigenen Freude am Enkelkind, aber auch, weil es einem ein gutes Gefühl gibt, zu helfen.»
Soziologe François Höpflinger, selbst aktiver Grossvater, sieht es ähnlich: «Da läuft eine sehr positive Entwicklung ab. Während bei älteren Menschen vieles im Abbau begriffen ist, geht es mit den Enkeln vorwärts.» Es stimmt: Kinder entwickeln und entfalten sich, knüpfen neue Beziehungen, sind in Berührung mit den neusten digitalen Entwicklungen. «All das färbt auf die Grosseltern ab», weiss Höpflinger. Mehrfach sei in Studien gezeigt worden: «Grosskinder wirken sich wie ein Jungbrunnen aus, sie halten einen lebendig und jugendlich.» Angesichts des heute omnipräsenten Strebens nach Jugendlichkeit gibt er zu bedenken: «Die Rolle der Grosseltern ist für heutige Alternde die einzige positive Altersrolle. Sie hat eine riesige Aufwertung erfahren.»
Traumrolle Grossmutter? Wunschtraum Grossvater?
Zumindest sind das zwei von den wenigen Rollen, in denen sich die heute über 50-Jährigen selbst neu erfinden können. Denn seit Gertrude Stein gilt zwar: Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose. Aber eben nicht: Ein Grosi ist ein Grosi ist ein Grosi. Wer noch bis heute am traditionellen Bild von der Grossmama – mit «Lismete» in der Hand und weissem «Bürzi» auf dem Kopf – wie auch an jenem vom «Ätti», der Pfeife schmauchend im Schaukelstuhl sitzt, festhält, ist in den Augen der aktuellen Grosseltern-Generation: «total out».
Dieser Umstand führt zur seltsamen Situation, dass die heutigen Mittfünfziger zwar auf jeden Fall Oma und Opa werden, jedoch auf keinen Fall so heissen wollen. Stattdessen suchen sie als Nonna und Nonno, Mimama und Pipapa, Nana und Dede ihren ganz eigenen Weg, die Beziehung zu ihren Enkeln zu leben – einzigartig und einmalig, vital und verspielt, aktiv und auf Augenhöhe mit den Grosskindern, geduldig und gefühlsbetont.
Selbst wenn ihr Grosselternsein sie dabei statistisch gesehen mehr und mehr Zeit und damit auch Energie kostet, ergibt die Bilanz der einfachen Milchmädchenrechnung unterm Strich ein Plus: Bei 100 Prozent Liebe zu den Kindeskindern, weder 100 Prozent Verantwortung für die Erziehung, noch 100 Prozent der zu stemmenden Betreuungszeit. Und dass dort, wo kein «Muss» existiert, einem unter dem Vorzeichen «Darf» schon mal Flügel wachsen können, ist vielleicht eines der grossen Geheimnisse von Grosseltern-Enkel-Beziehungen.
«Wollen wir fliegen, Joah?», fragt Grossmutter Lotti Kubli. Und schon wirbelt sie mit dem Jungen auf dem Arm mehrmals um die eigene Achse. Joah gluckst und lacht – und Lotti Kubli strahlt. Es ist nicht schwer zu erkennen, wie glücklich der Enkel ist – und seine «Nana» Lotti Kubli genauso: «Da ist diese Bedingungslosigkeit, die ich fast nicht beschreiben kann», meint sie strahlend. «Wenn Joah kommt, einen drückt und sich freut. Oder wenn sein Bruder Maël mich unverhofft auf der Strasse entdeckt – und plötzlich schreit es von irgendwoher ganz laut: Na-na, Na-na! Das bedeutet mir einfach ganz viel.»
Anna Kardos wollte als Kind Seiltänzerin oder wenigstens Primaballerina werden. Ein Geigendiplom und ein Literaturstudium später lässt sie heute stattdessen ihre Finger über die Tastatur tanzen auf den Kulturredaktionen bei CH Media oder seit Sommer 2020 bei der «NZZ am Sonntag», als Moderatorin und Publizistin. Wo es um das Thema Kultur, Kinder sowie die Kombination von beidem geht, schlägt ihr Herz höher.