Sicherheit
Gefährliche Schulwege
Von Sibille Moor
Alle Kinder haben ein Recht auf einen sicheren Schulweg. Mancherorts müssen Eltern lange dafür kämpfen. Zwei Beispiele zeigen den steinigen Weg. Und dass es sich lohnt.
Fünf Kinder warten an diesem regnerischen Morgen an der Bushaltestelle. Ruhig stehen können sie nicht. Sie klettern auf die Bank, malen mit Zweigen ein Herz in den Dreck. Dicht neben ihnen brausen Autos und Lastwagen mit 50 Stundenkilometer vorbei. Manche Autos weichen fast auf die Gegenfahrbahn aus, um die Kinder nicht zu gefährden. Denn an der Haltestelle gibt es kaum Platz zum Warten. Dann kommt der Bus, die Vier- bis Sechsjährigen stellen sich in eine Reihe und steigen ein. Sie fahren ins Nachbardorf in den Kindergarten. Ohne Begleitung.
Das wollen Pascal Zenklusen und Stefan Andres nicht länger hinnehmen. Die beiden Familienväter wohnen in Gamsen, einem Ortsteil der Gemeinde Brig-Glis im Wallis. Seit rund zehn Jahren hat das 550-Seelen-Dorf keine eigene Schule mehr. Die Kinder müssen mit dem Postauto in die Nachbardörfer fahren – die Kindergartenkinder gar mit dem Linienbus. Ein Schulweg, der gemäss eines Urteils des Berner Verwaltungsgerichts und der Beratungsstelle für Unfallverhütung (BfU) für Vier- bis Sechsjährige ohne Begleitung nicht zumutbar ist. Wegen der fehlenden Gurtentragpflicht seien sie besonders gefährdet und sie befänden sich auch in einem Umfeld mit fremden Personen. Zudem sei ihre Sicht aufgrund der Körpergrösse eingeschränkt, weshalb sie sich schlecht orientieren könnten. Im Wallis sieht man das bislang aber anders.
Noch immer hält sich in vielen Köpfen hartnäckig der Irrglaube, dass der Schulweg in der alleinigen Verantwortung der Eltern liegt. Ja, die Eltern sind für den Schulweg verantwortlich, aber nur, wenn dieser für das Kind zumutbar ist. Und dafür muss die öffentliche Hand sorgen. Das geht mit dem in der Bundesverfassung verankerten Recht auf Bildung einher. Doch dieses müssen sich Eltern mancherorts hart erkämpfen.
Kindergartenkinder stranden am Briger Bahnhof
Pascal Zenklusen und Stefan Andres kennen sich damit aus. Pascal Zenklusen, dessen Töchter fünf und sieben Jahre alt sind, sagt: «Wir haben bereits viele gefährliche Situationen erlebt.» Die Kinder müssten im Postauto oft stehen, was zu Stürzen geführt habe. Ein Kind sei in den Türen des fahrenden Buses eingeklemmt worden. Und immer wieder verpassten die Kinder ihre Haltestelle, unter anderem weil sie nicht zu den Stopp-Knöpfen gelangten. «Kinder sind schon am Bahnhof in Brig gestrandet und wir Eltern wurden von fremden Personen angerufen», erzählt der fünffache Vater Stefan Andres, dessen zwei jüngste Töchter fünf Jahre alt sind. Doch die Fahrt mit dem Bus ist nicht das einzig Gefährliche am Schulweg in Gamsen. Die Strassen zu den Haltestellen verfügen über keine Trottoirs, keine Fussgängerstreifen, überall herrscht Tempo 50. Aufgrund des angrenzenden Industriegebietes passieren immer wieder Lastwagen das Dorf.
Bereits 2015 begannen sich Eltern für Verbesserungen einzusetzen und erreichten kleinere Massnahmen, wie das Verschieben einer Haltestelle. Für Stefan Andres sind dies nur «Tropfen auf den heissen Stein». Seit Oktober 2022 kämpft er mit Pascal Zenklusen mit verschiedenen Mitteln für die Sicherheit der Kinder. Bis zum Redaktionsschluss ohne grossen Erfolg. Anfang Mai 2023 haben sie dem Briger Stadtpräsidenten eine Petition mit rund 550 Unterschriften eingereicht, in der sie als Sofortmassnahme Tempo 30 sowie für die Kindergartenkinder einen Schulbus oder eine Begleitung im ÖV fordern. Bis zum Redaktionsschluss hatten sie vom Stadtrat keine Antwort bekommen.
«wir eltern» fragt bei Matthias Bellwald, dem Briger Stadtpräsidenten, nach: «Die betroffenen Ressorts sind noch dabei, die Petition zu bearbeiten. Die Sorge um sichere Schulwege ist uns allen bewusst. Natürlich arbeiten wir an einer gemeinsamen Lösung», antwortet Bellwald. Auf konkrete Fragen, ob der Stadtrat den Schulweg für zumutbar hält oder welche Massnahmen umgesetzt werden könnten, geht er nicht ein.
Im August vermeldet Stefan Andres einen ersten erfreulichen Teilerfolg: «Unsere Kindergärtner erhalten ein Schülertaxi, zumindest bis die alte Landstrasse saniert worden ist.»
Pascal Regli, Schulwegexperte bei Fussverkehr Schweiz
Ein Vater kämpft zwei Jahre und mit allen Mitteln für Tempo 30
Einer, dessen Einsatz für einen sicheren Schulweg sich gelohnt hat, ist Ruedi Nauer. Er wohnt mit seiner Familie im schwyzerischen Vorderthal, einem Dorf im Wägital. Zweieinhalb Jahre lang hat der zweifache Familienvater für Tempo 30 bei einem Fussgängerstreifen vor dem Schulhaus gekämpft. Auf das neue Schuljahr hin ist im Dorfkern nun endlich eine Tempo-30-Strecke signalisiert worden.
Wer an besagtem Fussgängerstreifen steht, erkennt das Problem sofort. Eine Hausecke und eine leichte Kurve verdecken die Sicht. Die Autofahrer:innen sehen die Kinder nicht warten, die Kinder sehen die heranfahrenden Autos nicht. Wer mit 50 Stundenkilometern fährt, hat keine Chance, so schnell abzubremsen. «Fast alle Vorderthaler haben an diesem Fussgängerstreifen bereits brenzlige Situationen erlebt», erzählt Ruedi Nauer, der zwei Töchter im Alter von sieben und zwölf Jahren hat. Statt zu warten, bis etwas passiert, beschloss er Anfang 2021, sich für die Sicherheit aller im Dorf einzusetzen.
Solange er als Einzelperson beim Bezirk March intervenierte, blitzte er ab. Obwohl auch der Vorderthaler Gemeinderat seinen Vorstoss unterstützte. Daraufhin nahm Ruedi Nauer einen Anwalt, sammelte über 300 Unterschriften und reichte im Namen von elf Kindern einen Antrag beim Schulrat für professionelle Schülerlotsen ein. «Wir mussten uns dafür auf das Recht auf einen zumutbaren Schulweg berufen», sagt er. Der Antrag wurde abgelehnt, woraufhin er Beschwerde beim Schwyzer Regierungsrat einreichte. Zusätzlich begann er, medialen Druck aufzubauen – bis der Bezirk March schliesslich einlenkte.
Gamsen und Vorderthal sind nur zwei Beispiele. Das Thema Schulwegsicherheit bewegt überall: in der Stadt, in der Agglomeration, auf dem Land. Die beiden Beispiele zeigen exemplarisch einige der Schwierigkeiten rund um das Thema. Zum einen sind in der Regel verschiedene Ämter, Behörden und Interessen involviert. Gerne schieben sie sich die Verantwortung im Kreis herum. In manchen Fällen möchte die Schule oder die Gemeinde bauliche Massnahmen oder Temporeduktionen ergreifen, doch ihr sind die Hände gebunden, weil es sich um eine Kantonsstrasse handelt. Zum andern sind da die bürokratischen und politischen Mühlen, die in der Schweiz stets langsam mahlen. In der Zwischenzeit herrscht das Prinzip Hoffnung. Hoffen, dass nichts Schlimmes passiert.
Hinter vorgehaltener Hand wird den Eltern gern Überängstlichkeit unterstellt. Im Sinne von: Früher gings ja auch. Früher gab es auch kein Trottoir, keinen Fussgängerstreifen und schon gar keinen Schulbus. Doch diese Einstellung kann aus zwei Gründen fatal sein. Zum einen gehen die Kinder heute bereits mit vier Jahren und damit fast zwei Jahre früher in den Kindergarten. «Vierjährige sind noch bei Weitem nicht verkehrssicher», sagt Pascal Regli. Er ist Schulwegexperte beim Verein Fussverkehr Schweiz. Ruth Beer, wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der BfU ergänzt: «Vierjährige können noch nicht wahrnehmen, aus welcher Richtung ein Geräusch kommt, geschweige denn, die Geschwindigkeit eines Autos einschätzen.» Erst mit etwa acht Jahren könnten Kinder den Verkehr einigermassen zuverlässig einschätzen und rund zwei bis drei Jahre später haben sie ein Bewusstsein für vorbeugende Massnahmen entwickelt und lassen sich weniger schnell ablenken.
Sind Eltern heute ängstlicher oder der Verkehr gefährlicher?
Der zweite Grund, weshalb man heute nicht mit früher vergleichen darf, ist der Verkehr, wie Ruth Beer sagt: «In den letzten acht bis zehn Jahren hat der Verkehr massiv zugenommen und ist viel komplexer geworden.» Es sind also nicht nur viel mehr Fahrzeuge unterwegs, sondern auch deren Vielfalt hat insbesondere mit der Elektromobilität zugenommen. Elektroautos sind kaum hörbar, E-Bikes sehen aus wie Velos, sind aber viel schneller.
Pascal Regli ortet noch einen weiteren Punkt, weshalb Kinder heute teilweise längere und gefährlichere Schulwege haben: «Viele Gemeinden haben ihre Bildungseinrichtungen zentralisiert, um Tagesstrukturen anbieten zu können. Die Kinder wohnen aber noch immer dezentral.» Klar ist: Eltern, die sich für einen sicheren Schulweg einsetzen, benötigen einen langen Atem. Ruedi Nauer sagt: «Mein Einsatz hat viel Geduld, Nerven, einen nicht unerheblichen finanziellen Aufwand erfordert.» Am Schluss zähle jedoch das Resultat. «Ich motiviere alle Eltern, nicht aufzugeben und konsequent am Ziel festzuhalten.» Die Stellungnahme von Walter Kälin, Landschreiber des Bezirkes March, zeigt, dass es sich lohnt, Gleichgesinnte hinter sich zu scharen: «Einerseits hat die Gemeinde Vorderthal um die Prüfung einer Temporeduktion ersucht, andererseits zeigte eine Unterschriftensammlung, dass es nicht nur eine Einzelperson ist, welche eine Temporeduktion wünscht.»
Doch das ist lange nicht immer so. Deshalb müssen Eltern, die sich für sichere Schulwege einsetzen, wissen, dass sie es oft nicht für ihre eigenen Kinder tun, sondern für die nachfolgenden. Das ist auch ein Grund, weshalb gefährliche Stellen lange gefährlich bleiben: Die Eltern verlieren den Antrieb, sich einzusetzen, sobald die eigenen Kinder nicht mehr betroffen sind. In Gamsen soll das nicht passieren, wie Stefan Andres sagt: «Mit der Unterstützung der Gamser Bevölkerung im Rücken sind wir bereit, wenn nötig vor Gericht zu gehen.»