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Freimissen
Als mein Achtjähiger kürzlich mit seinen Grosseltern geplant hat, sie in den Sommerferien für ein paar Tage zu besuchen, hat er mich gefragt, ob ich ihn vermissen werde – und ich schwöre, ich habe stattdessen freimissen verstanden. Wenn man ständig unter Schlafmangel (Baby, Arbeit zu den unmöglichsten Zeiten) leidet und dauernd mehrere Dinge gleichzeitig macht, dann neigt man dazu, sich zu verhören. Aus «Papa, ich habe eine Rotzfahne» wird dann schnell mal «Papa, himblwimbl Kotzplane» und statt «Es ist Freitag, ich kriege heute Taschengeld!» hört man «Beitrag fällig für Haschischgeld!». Da hilft dann auch nicht, dass laut Freud manchmal eine Zigarre einfach nur eine Zigarre ist. Über Haschischgeld denkt man eine Weile nach – egal wer es nicht gesagt hat. Und über freimissen habe ich nicht nur nachgedacht sondern bin richtig ins Grübeln gekommen. Das klingt wie etwas, das mich ziemlich gut beschreibt.
Freimissen, das ist so eine Mischung aus Freihaben und Vermissen. Verhaben ginge vielleicht auch, passt aber nicht so gut. Beim Freimissen geht es um dieses Gefühl, im Urlaub mir den Kindern Urlaub zu brauchen. Man steht irgendwo fernab der Heimat und ihrer fast entspannt eingespielten Routinen an der Spass- und Unterhaltungsfront, hat von irgendetwas zu wenig eingepackt, den Grossen ist zu heiss oder zu kalt und das Baby schreit, weil ihm was fehlt – wahrscheinlich sein Zuhause, aber genau das hat man ja gerade nicht dabei. Und dann schaut man die Mutter von dem ganzen Chaos an, hat gerade noch genug Kraft zu bemerken, wie umwerfend sie in all dem Wahnsinn aussieht, und denkt sich, dass man mit dieser Frau aber mal dringend ein paar Tage allein verbringen müsste.
Oder man hat sich am Wochenende gerade so zum gemeinsamen Putzen aufgerafft, geniesst für 5 Minuten eine geradezu saubere Wohnung, in der man nicht ständig vor Schmerz aufschreit, weil man ständig auf irgendwelche spitzen Kleinteile tritt, und dann spuckt das Baby lachend ein bisschen Milch auf den Boden, während seine Geschwister, die gerade «nur ganz schnell, ehrlich» mit ihren dreckigen Schuhen von draußen hereingestürmt kommen, weil sie etwas vergessen haben, ihm fröhlich zuwinken.
Genau dieses Gefühl mischt sich mit dem Grummeln in der Magengegend, das man hat, wenn die Grosse für drei Tage auf einem Segeltrip ist und nachts um 3 wütet ums Haus der Sturm. Oder mit der Sehnsucht an langen Arbeitstagen nach diesem lieb-weichen, strubbligen Glücksköpfchen vom Baby nach dem Schlafen. Freimissen also. Ein Wort für das Spannungsfeld zwischen «Könntet ihr mir bitte, bitte wenigstens einen Quadratmillimeter meiner Existenz lassen, damit ich gelegentlich nachprüfen kann, wer ich bin und wer diese Frau ist, die ständig vollkommen erschöpft in meiner Wohnung herumgeistert und mir sagt, ich sähe so fertig aus.» und «Lasst uns auf irgendeiner Matratze einen Körperknäuel bilden, ihr wart viel zu lange viel zu weit weg von mir.»
Das sich schlechtes Gewissen auf Freimissen reimt, ist übrigens kein Zufall, sondern liegt in der Natur der Sache. Wenn man das eine hat, will man das andere. Nicht nur das, man braucht es sogar. Freizeit UND seine Kinder sofort wieder um sich. Endlich mal wieder einen Abend, um mit der Liebsten vor dem Fernseher zu Kuscheln und oder so richtig zensiert UND stundenlanges Vorlesen, weil die Kinder, obwohl es schon viel zu spät ist, einfach nicht genug bekommen können.
Man mag das widersprüchlich nennen. Vielleicht sogar ein bisschen meschugge. Ich nenne das Elternsein.
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Nils Pickert (1979), geboren in Ostberlin, nach dem Mauerfall mit einer waschechten Kreuzbergerin angebändelt. Gegenwärtig 4 Kinder: Emma (12), Emil (10), Theo (2½) und Maja (bald 1). Arbeitet als freier Journalist für diverse Medien und als Weltverbesserer bei dem Verein Pinkstinks, der sich unter anderem gegen Sexismus in der Werbung engagiert. Wurde von der «Weltwoche» mal als «maximal emanzipierter Mann» beleidigt, findet aber, dass ihm der Titel steht. Bloggt für «wir eltern» über Alltag mit Kindern, gleichberechtigtes Familienleben, neue Väter, Elternbeziehungen, Erziehungswahnsinn. Alle Blogg-Beiträge von Nils Pickert finden Sie hier.