Familie
Flickwerk mit Flecken
Erfolg verdammt nennt man das. Unglücklich zu sein, ist diesmal keine Option, Scheitern eine Schmach. Wer das Wagnis Patchwork- Familie eingegangen ist, hat, bitteschön, happy zu sein. Die erste Ehe oder eheähnliche Beziehung in den Sand zu setzen, das ist heutzutage ein wenig wie der Tod des Familienhundes: schmerzlich, Lücken und Tränen hinterlassend, doch – überlebbar. Umfeld und Selbstbild kommen damit zurecht.
Aber noch eine zweite? Nein. Die muss klappen. Wo bliebe denn sonst das Happy End? Zusammenzufügen, was nicht zusammengehörte, hat gefälligst zu sein, wie «Patchwork» sich anhört: so bunt, so fröhlich, so kreativ. Unkonventionelle «Bonus-Eltern», die mit den Stiefkinder-Freunden ein stylisches neues Flickwerk bilden. Ganz wie man es aus Komödien mit Til Schweiger oder Elyas M‘Barek und Promi-Gazetten kennt. Ein einziger hipper Spass.
Nur – mit der Realität hat das nichts zu tun. 30 Prozent der ersten Ehen scheitern, in Grossstädten 50. Bei Zweit-Familien – und das ist inzwischen jede siebte – pendeln sich die geschätzten Trennungs-Zahlen bei 65 Prozent ein. Warum aber havarieren «second hand families» häufiger, obwohl doch alle Beteiligten älter, erfahrener und familienerprobter sind, die Lufthansa den «Rotkäppchen Service» und die Deutsche Bahn das «Kids on Tour»-Ticket für pendelnde Trennungskinder anbietet? Warum hat diesmal die Romantik eine noch kürzere Halbwertszeit? Warum befindet der «Spiegel»: «Das Lebens-Lego ist eine Illusion»? Liegt es, wie die Autorin Melanie Mühl in ihrem Buch «Die Patchwork-Lüge» schreibt, an der derzeitigen «Philosophie unserer Unverbindlichkeitswelt und Ideologie der Ersetzbarkeit», an einer Wegwerf-Mentalität, in der Durchhalten «in guten wie in schlechten Zeiten» bestenfalls als verbohrt eingestuft wird? Liegt es daran, dass Ehe-Veteranen wissen «notfalls schaff ich es allein» und daher wenig für maue Kompromisse übrighaben? Oder liegt es in Wahrheit vor allem an einem: Überforderung. Emotional, zeitlich, logistisch, finanziell.
Denn, seien wir ehrlich, Schwierigkeiten potenzieren sich mit der Anzahl der beteiligten Personen. Eine glückliche Paarbeziehung zu führen, ist nicht leicht, Familie eine echte Herausforderung mit neunmonatiger Aufwärmphase. Aber Patchwork – das ist ein Sprung ins kalte Wasser, der Auerbachsalto mit anderthalbfacher Schraube, gehechtet.
Klar sind Familien individuell wie die Menschen. Selbstverständlich gibt es diese Stief-Familie, in der es vollständig anders und herrlich glatt läuft und doch, das zeigt ein Blick in diverse Internet-Foren, das zeigen Gespräche mit Betroffenen, ist das Flickwerk alles andere als mühelos hinzukriegen. Sind die jeweiligen Konstellationen auch unterschiedlich, die Schwierigkeiten von Zweitfamilien sind sich so ähnlich wie Christbaumkugeln: andere Farben vielleicht, aber alle rund. Deshalb hier die typischsten Patchworker- Sätze. Jeder davon ein kleiner Molotow-Cocktail: Traditionen bilden Identität, Rituale stiften Zusammenhalt. Nicht umsonst haben Länder Hymnen, gibt es in der Schule Geschichtsunterricht. Deshalb haben Fussballfans Lieder. Chindsgi-Kinder den Morgenkreis.
«Wieso gibt es denn jetzt an Weihnachten plötzlich Fondue?»
Familien haben die Weihnachtsgans. Fotoalben. Das kollektive Augenverdrehen, wenn Papa zum hundertsten Mal erzählt, wie er – beinahe – Fussballprofi geworden wäre; und auf ewig nennen alle Familienmitglieder einen Schmetterling «Belili», nur weil eines der Kinder das früher mal so gesagt hat. Mitgliedschaft im Geheimbund? Durch Geburt oder gar nicht. Dem neuen Partner tut er allerdings oft weh, dieser elektrische Zaun um die Herkunftsfamilie. Doch leider funktioniert auch die Lösung, die Rituale abzuwandeln oder ausfallen zu lassen nicht besonders gut.
Dann greift, was Arne Daniels in Elisabeth Niejahrs Buch «Alles auf Anfang» beschreibt: «Viele Patchwork-Kinder wissen, wie bitter es sich anfühlt, wenn plötzlich nicht mehr richtig sein darf, was doch immer richtig war, nur weil Menschen, die sich ins Leben drängen, es anders machen. Da kann es schon genügen, wenn es statt Fleischfondue an Heiligabend Raclette zu essen gibt (...) Das ist dann Verrat.» Aber wie rauskommen aus der Zwickmühle? Wen vor den Kopf stossen? Den Partner, die Kinder? Allen, indem man eine Grippe vortäuscht und das Bett nicht verlässt? Selbst Paarberater sind bei diesem Drahtseilakt mit Ratschlägen vorsichtig. «Tradition ist wie vieles in der Patchworkfamilie Verhandlungssache», sagt Henri Guttmann, Paartherapeut aus Winterthur. «Letztlich geht es darum, als neue Familie neue Rituale zu pflegen und bei den ‹alten› Familienmitgliedern anzufragen, ob das so okay ist.» Oder gemeinsam neue suchen: Das bietet zudem die Chance, nie wieder die stets zähe Gans essen zu müssen.
«Mein Papa hat aber ein viel grösseres Auto!»
Der Satz sitzt. Und das sogar wenn der neue Wahlverwandte passionierter Velo-Fahrer ist. Denn so knapp die Bemerkung auch ist, sie birgt gleich drei Sprengsätze:
1. Sprengsatz: Geld ist in Patchworkfamilien ein neuralgischer Punkt. Verpflichtungen der Erstfamilie gegenüber bringen die Folgefamilie zuweilen an den Rand des Existenzminimums. Kostspielige Scheidung, Alimente, Unterhalt, neue Familie ... Klavierstunden, welche die Tochter aus erster Ehe weiterführen soll, aber fehlendes Geld für das Eishockey-Outfit des gemeinsamen Sohnes aus der Neu-Beziehung sorgen schnell für erfrischend lebendige Diskussionen. Ebenso wie die Frage, warum eigentlich die Ex nur zweimal in der Woche ein bisschen in einer Galerie jobbt, man selbst aber zu 100 Prozent schuften muss. Auch juristisch ist die Geldfrage tricky: Einerseits besteht in Härtefällen eine sogenannte finanzielle Beistandspflicht für die Fremdkinder, andererseits sind diese nicht erbberechtigt. Erbverträge sind in dieser Familienkonstellation fast Pflicht.
2. Sprengsatz: Kinder sind dem leiblichen Elternteil gegenüber loyal. Und – sie sind keine Engel. «Der Zorn der Kleinen auf die Neuen ist erst mal da. Das Gefühl, der oder die haben mir die Mama oder den Papa weggenommen, stellt sich so sicher ein wie das Amen in der Kirche», schreibt Corinne Neumann im «Spiegel». Vor allem die nicht mehr ganz so Kleinen, die Teenager, signalisierten durch die Bank, so eine Studie des Deutschen Jugendinstitute DJI, «Mit dir will ich nichts zu tun haben». Da können sich die angeheirateten Stefans, Sabines und Jasmins noch so mühen, nicht nur die Klischees von bösen Stiefeltern Lügen zu strafen, sondern zur besseren Variante des leiblichen Elternteils zu werden, das Unternehmen wird scheitern. Nach fünf Jahren jedoch, so Untersuchungen des DJI, wird immerhin jede dritte Stiefmutter als «nett» anerkannt, von den Stiefvätern ist es jeder zweite.
3. Sprengsatz: Was eignet sich als eleganter Nadelstich besser als die Eifersucht auf den Vorgänger oder die Vorgängerin ein bisschen anzuheizen? Na, bitte.
«Du hast mir gar nichts zu sagen, du bist nicht mein Vater.»
Finger hoch, wer von den Stiefvätern hat das noch nie gehört? Keiner? Das ist repräsentativ. Warum der Satz verlässlich kommt: Weil er richtig ist. Und – er stellt sicher, dass der Heranwachsende in dem Konflikt das letzte Wort haben wird, ein bisschen Macht. Ein weiterer Grund, so Autorin Melanie Mühl: «Kein Kind kann wissen, wie lange der Stiefvater bleibt, ob er mehr ist als ein weiterer Lebensabschnittsgefährte der Mutter. Er ist keine feste männliche Bezugsperson.»
Doch wenn es sich herausstellt, dass der aktuelle Kurt nicht nur ein weiterer Daniel, Beat oder Thomas ist? «Ein Jahr etwa», empfiehlt Paartherapeut Henri Guttmann, «sollte sich der Neue vollständig zurückhalten.» Schimpfen und Anordnen erledigt allein der leibliche Elternteil. Doch dann – gilt es die eigene Rolle zu finden. Wer Ansprüche auf die Fernbedienung des Fernsehers erhebt, ist auch zuständig für volle Mülleimer; wer platte Fahrradreifen wechselt, darf sich auch über im Flur herumliegende Reitstiefel beschweren.
«Deine Kinder sind furchtbar verwöhnt.»
Vermutlich ebenfalls von tiefer Wahrheit, der Satz. Besonders Väter mit schlechtem Gewissen, weil sie ihre Kinder «im Stich gelassen» haben, alleinerziehende Mütter, die ihrem «Trennungskind» das vermeintlich harte Los ein wenig leichter machen möchten und hassvoll ineinander verkrallte Ex-Partner, die um die Gunst der Kinder rivalisieren, neigen zum Verwöhnen. Immerhin bleiben 10 bis 20 Prozent der Geschiedenen noch Jahre nach der Trennung feindselig verhakt, so ein Ergebnis des DJI-Projekts «Familienentwicklung nach Trennung der Eltern». Für Ria Eugster, Paarcoach aus Stäfa, ist das ein Hauptgrund für das Scheitern von Folgebeziehungen. «Neues lässt sich nicht auf den Trümmern von Altem errichten, der Boden muss bereinigt sein. Nur wer mit der gescheiterten Ex-Beziehung Frieden geschlossen hat, kann neue Zukunftsperspektiven entwickeln.» Unerlässlich ist dabei der Schulterschluss der Erwachsenen. Erst dann kann das Paar Erziehungsvorstellungen miteinander abgleichen und eigene Spielregeln entwickeln, hinter denen sie gemeinsam stehen können. Merke: Unsicherheit wittern Kinder wie Haie den blutenden Zeh des Schwimmers.
«Wieso kriegt der ein Gummibärchen mehr als ich?»
Wahlweise könnten hier auch die Sätze «Du kümmerst dich nur noch um die fremden Kinder», «Muss ich mich dafür rechtfertigen, dass ich meine Kinder lieb habe?» oder «Immer darf nur der da entscheiden» stehen. Mit dem neuen Partner und dessen Kindern halten auch Briefwaage, Millimeterpapier und Stoppuhr Einzug. Von jetzt an wird Zuwendung vermessen, wird jede Portion abgewogen und Gerechtigkeit bei einer halbierten Kartoffel thematisiert. Pasta oder Pommes? – wird zum Machtkampf. Die Auswahl des Fernsehprogramms gilt als Indikator für die Stärke von Liebe. Und das übrig gebliebene Gummibärchen in der Tüte ist fortan stärker umkämpft als die letzte Wasserflasche in der Wüste.
Eifersucht ist das Dominanteste der neuen Familienmitglieder. Schliesslich weiss in dem neuen Gefüge niemand mehr wo sein Platz ist. Noch genauso nah an Mamas Herzen? Oder irgendwo weit hinten unter ferner liefen? Gilt: Die Kinder gehen vor? Und wenn ja, warum eigentlich? Einfach wegwedeln lassen sich die giftig gelben Eifersuchts-Schwaden selbst dann nicht, wenn der Kopf weiss, dass Neid auf Kinder kleingeistig ist und die Liebe zum Kind mit der Liebe zum Partner nicht vergleichbar ist. Der Kopf, der weiss das, ja. Bleiben noch Bauch und Herz ... Das einzig mögliche Gegenmittel ist: Sicherheit. Das feste Wissen: «Doch, Mama liebt mich noch ganz genauso, obwohl sie jetzt mit diesem Voll- Honk Händchen hält.» Und das tiefe, ruhige Gefühl: «Okay, er bejubelt die schiefe gezogene Kerze seines Töchterchens einige Phon lauter als den von mir selbst gestrickten Pullover, aber dafür geht er heute Abend mit mir ins Bett. Ha!» Wie allerdings diese erleuchtete Haltung zu erreichen ist, weiss bis heute niemand so recht.
«Es war viel schöner, als wir noch allein waren.»
Der Tränenschocker unter den Sätzen. Keine ehemals alleinerziehende Mutter, die hier nicht feuchte Augen bekäme. Kein Ex-Alleinerziehender, der jetzt nicht irgendwas im Hals wegräuspern müsste. Schliesslich verbirgt sich in dem Satz ausser Wehmut auch Anerkennung: So schlecht hat man es damals, als man noch alle Bälle allein in der Luft halten musste, also doch nicht gemacht.
«Dieter, der Spinner oder das ist die Tatjana.»
Kinder sind nach Trennungen manchmal schwierig. Erwachsene zeigen nach Trennungen manchmal schwierige Verhaltensweisen. Sehr beliebt: Der neue Partner, die neue Partnerin soll zwingend das Gegenteil des Ex sein, getreu dem naiven Motto, wenn Weiss falsch war, muss Schwarz richtig sein. Der kiffende Barde passt aber auf Dauer nicht zwingend besser als der ehrgeizige Banker. Männer neigen dazu, bei der zweiten Ehe eine Frau zu wählen, die bei der Hochzeit genauso alt ist, wie es die erste Frau bei der Hochzeit war. In jeder fünften Zweitehe ist die Frau zehn oder mehr Jahre jünger als der Mann. Prominente wie etwa Bruce Willis (57), dessen Folgefrau Emma Heming gerade 34 ist oder Joschka Fischer mit seiner 28 Jahre jüngeren Minu lässt man besser gleich aussen vor ... Dass Kinder zurückhaltend auf «Das ist die Tatjana» reagieren, wenn Tatjana ebenso alt ist wie sie selbst, dafür aber viel kürzere Röcke trägt, ist nachvollziehbar. Ein Hinweis auf die Studie Sven Drehfals von der Universität Stockholm, dass eine deutlich jüngere Frau das Sterberisiko des Mannes um elf Prozent senkt im Vergleich zu einer altersäquivalenten Ehe, wird das Verhältnis zur Neuen nicht bessern.
«Für uns bleibt gar keine Zeit.»
Zeit fürs Paar MUSS bleiben. Wenn vor lauter deinen Kindern, meinen Kindern, unseren Kindern, Ex-Männern, Stief-Grosseltern, Arbeit und Agenden-Abgleich die Zweisamkeit geschliffen wird, zerbröselt die Partnerschaft ziemlich schnell. Deshalb, Ria Eugsters Tipp (siehe Liste): Aus der Not eine Tugend machen, Besuchswochenenden miteinander abstimmen und jedes zweite Wochenende freischaufeln – für die Partnerschaft und zur Erholung. Denn die braucht man für den Hürdenlauf Patchworkfamilie. Dringend.
Tipps
von Ria Eugster, Paarcoach aus Stäfa, Betreiberin der Webseite patchwork-familie.ch und langjährige Step-Mom.
- Sich im Vorfeld ehrlich die Frage beantworten: Will ich diesen Partner für die ganz lange Distanz? Auch mit Anhang? Bockigem Anhang? Ungezogenem Anhang?
- Es ist normal, eigene Kinder mehr zu lieben als fremde.
- Schlechtes Gewissen den armen Trennungskindern gegenüber? Weg damit. Nur wer mit der Vergangenheit Frieden schliesst, kann Neues anfangen.
- Kein schlechtes Wort über den leiblichen Vater oder die leibliche Mutter.
- Gemeinsamen Nenner in der Erziehung finden. Hinter geschlossenen Türen.
- Kinder als nicht wegzudiskutierenden Teil des anderen akzeptieren. Er ist ein Gesamtpaket.
- Der Partner ist die Nummer 1, das Paar die Basis.
- Viel Zeit geben, alle Gefühle erlauben, nichts persönlich nehmen.
- Auch die Kernfamilie darf mal unter sich sein.
- Eigene Toleranz trainieren.
- Keinem Idealbild nacheifern
- Keine Dankbarkeit erwarten: Die Kinder haben die neue Partnerschaft schliesslich nicht gewollt.
- Kinderfreie Zeit organisieren. Agenden mit dem Ex-Partner abgleichen, dann hat das neue Paar jedes 2.Wochende frei.
- Von den Erfahrungen anderer profitieren.
- Patentrezepte? Fehlanzeige.