Alltag
Familien und ihre Lieblingsrituale
Von Veronica Bonilla Gurzeler
Kinder mögen Wiederholungen und Rituale, sie schaffen Sicherheit und sorgen für Geborgenheit. Doch wie entstehen sie? Wir haben bei den wahren Experten und Expertinnen nachgefragt: den Eltern.
Oft merken wir als Eltern erst ein ganzes Stück später, welchen Wert etwas hat, das wir ohne viel zu überlegen einfach mal getan haben. Und weils gut und schön war oder so viel Spass gemacht hat, gleich noch ein zweites, drittes, viertes Mal. Manchmal werden aus solchen Ideen oder Erlebnissen kleinere oder grössere Familienrituale, die allen ans Herz wachsen – und bisweilen sogar weit über die Kindheit hinaus weitergeführt werden, nicht selten von den Kindern selbst. Erstaunlich ist das nicht. Denn Wiederholungen geben Sicherheit, sie bringen Struktur, Vorhersehbarkeit und Verlässlichkeit in den Alltag, sagen Psychologen. Das spüren auch wir Erwachsene. Jeden Morgen einen frisch gebrühten Grüntee – da mag die Welt um uns herum wanken, die warme Teetasse fühlt sich an wie ein Anker. Oft sind es solch kleine Dinge, die uns stärken und eine Ausrichtung geben. Geteilt mit der Familie, schaffen Rituale Vertrautheit und Verbindung und sind eine Quelle des Glücks. Für die ganze Familie.
Wir haben kleine Familienrituale gesammelt und zur Inspiration aufgeschrieben. Nachmachen erlaubt!
Die zwei Nägel stecken das ganze Jahr über rechts und links im Türrahmen. Sie sind die Aufhängevorrichtung für das Stück Stoff, das als Vorhang für das Kasperlitheater dient. Die Theaterinszenierung ist das Highlight unserer Kindergeburtstage, alljährlich wird sie von den Kindern eingefordert.
Die Dramaturgie ist bescheiden: Das grüne Krokodil verschlingt die Oma samt runder Brille, Kasperl eilt zur Hilfe, doch als wahre Heldin geht immer die rote Zora von der Bühne – eine selbst gebastelte Diva mit langen Filzzotteln. Der Lohn für den Sieg des Guten über das Böse ist lautes Kinderlachen und begeistertes Klatschen. «Zugabe!», rufen die Kinder. Klar gibts eine Zugabe – oder einfach dieselbe Geschichte von vorne.
Ich laufe in dieser Geburtstagstradition Jahr für Jahr zu Höchstform auf. Oder präziser: Ich lief zu Höchstform auf. Denn irgendwann war ich die Letzte, die sich im Theäterle gefiel, die Kinder fanden die Kasperli-Inszenierungen schleichend uncooler. So begruben wir das Ritual in unseren Erinnerungen. Geblieben sind die zwei Löcher im Türrahmen, die mich manchmal zu einem leisen Tri-tra-trallalla verleiten.
Manuela von Ah
Als ich wieder mal mit Julia zur Oma spazierte ging, fing ich aus einer Laune heraus an, alle Hydranten zu grüssen, die er an der Strasse entdeckte. Vielleicht, weil der Weg mit der kleinen Julia mindestens fünfundnulllzehnmal länger dauerte als ohne sie. Oder weil ich gerade in besonders freundlicher Stimmung war. So genau weiss ich das nicht mehr. Auf jeden Fall machte Julia sofort mit, auch beim nächsten Oma-Besuch. Von da an wurde Hydrantengrüssen unser beliebtes Vater-Tochter-Spiel, wann immer wir zu Fuss unterwegs waren. Es sorgt für Spass und kann nahezu überall gespielt werden, wo es Häuser gibt, denn in der Schweiz gibt es viele Tausend Hydranten, alleine in der Stadt Zürich 9000. Noch heute ertappt sich Julia, die in zwei Wochen schon 19 Jahre wird, manchmal dabei, dass sie einem besonders auffälligen Hydranten im Vorbeigehen einen Gruss zuwirft. Einen stummen allerdings.
Markus Meier
Vor dem Zubettgehen sagen wir zusammen mit den Kindern immer der ganzen Welt «Gute Nacht». Alles, was wir sehen, wird verabschiedet: Gute Nacht Münster, Gute Nacht Kran, Gute Nacht Apfelbaum, Gute Nacht Katze Oskar. Zum Schluss wünschen wir dem Mond, welcher nun arbeiten muss, auch noch eine Gute Nacht.
Jeanette Bolliger
Die Idee entstand, als ich mich von meinem Partner trennte und das erste Mal mit meinen Kindern allein verreiste. Wasser und Flüsse fanden alle interessant, deshalb fuhren wir nach Brugg und erkundeten zu Fuss das Wasserschloss, wo Reuss, Aare und Limmat zu einem einzigen Strom werden. Nun wollten die 7-jährigen Zwillinge Mérette und Thierry und die 12-jährige Juliette auch noch sehen, wo dieses Wasser die Schweiz verlässt, deshalb gings weiter nach Basel. Der Hafen und die Rheinschifffahrt faszinierten die Kinder, so sehr, dass wir im nächsten Jahr nach Düsseldorf reisten, wo der Rhein nochmal ein rechtes Stück beeindruckender ist. Von da an bestimmte der Rhein unser Ferienziel. Wir lernten den Bodensee kennen, durch den der Rhein im Schneckentempo fliesst, den Rheinfall in Schaffhausen und letztes Jahr die Rheinquelle auf dem Oberalppass. Dort steht ein Leuchtturm, der daran erinnert, wo der Rhein ins Meer fliesst: in Rotterdam. Genau dahin geht es diesen Frühling. Wir fahren an die Hauptmündungsstelle des Rheins. Ich freue mich schon jetzt, wie die Kinder staunen werden, was aus dem Rinnsal von den Schweizer Bergen geworden ist.
Marlies Niklaus
Auch wenn das Wetter mal nicht so will, wie man es gerne hätte – die Familienhunde müssen trotzdem raus. Da half auch der grosse Protest unserer kleinen Tochter nichts. «Dafür machen wir nachher einen Vanillepudding», lockte ich und schon zog Kim die Regenjacke freiwillig an. Vom Spaziergang zurück, kochten wir zusammen den Pudding und warteten, bis er abgekühlt war. Endlich! Mit Schüsselchen und Löffelchen setzten wir uns aufs Sofa und schauten zusammen die Kinderserie Caillou. Jeden Sonntag, wenn schlechtes Wetter war. Fünf Jahre lang. In letzter Zeit kommt unser Teenager manchmal sogar freiwillig auf den Spaziergang mit. Und kocht danach Vanillepudding. «Caillou» haben wir mittlerweile durch «Outer Banks» ersetzt.
Andrea Husistein
Wenn wir im Sommer nach Italien fahren, hören wir im Auto immer unsere Familienplaylist. Jedes Familienmitglied fügt vor der Abreise seine Musik hinzu. So hat es für alle etwas und wir haben genug Musik für die Reise, die 14 bis 17 Stunden dauert. Ein weiteres Familienritual: Im Dezember schauen wir immer alle Harry-Potter-Filme und weil wir bereits in der ersten Dezemberwoche beginnen, sind wir bis Weihnachten durch. Es ist unser Highlight vor den Festtagen.
Vanessa Melina
«Papi, göh mer chli go Outo fahre?» Meiner Tochter ist langweilig. Wir starten die Alfa Giulietta und fahren los. Mal eine Rundfahrt durch den Bucheggberg. Mal ein Fährtchen mit Zwischenstopp im McDonald's. Das machen wir seit vielleicht drei Jahren so. Früher philosophierten wir während der Fahrt. Heute trägt sie AirPods, ich konsumiere die sich repetierenden Landschaften. Und doch ist es wertvolle Papi-Tochter-Zeit. Der Apfel fällt übrigens nicht weit vom Stamm: Als ich Kind und im Alter meiner Tochter war, kutschierten meine Eltern mit mir auch regelmässig stundenlang durch den Bucheggberg.
Martin Kaiser
Die meisten Eltern tragen das Wachstum ihres Kindes heute eine App ein oder sogar in ein Buch. Andere machen alle paar Monate Strichlein an eine Wand. Die Kleinen freuen sich jedes Mal riesig, wenn sie sehen, dass sie seit der letzten Messung wieder ein Stück grösser geworden sind. So haben auch wir es mindestens einmal pro Jahr gemacht. Doch irgendwann, als die Kinder aus dem Gröbsten heraus waren, brauchten die Wände dringend einen neuen Anstrich. Alle waren wir uns sofort einig, dass die Wachstumsprotokolle gerettet werden mussten. Also übertrugen wir die Messdaten der drei Kinder auf einen über zwei Meter langen Holzbalken, jedes der drei Kinder bekam für sich eine Seite. Auf der vierten Seite wollten sie, dass ich meine Grösse eintrug. Von da an, war es ihr erklärtes Ziel, meine 165 cm zu überholen. Es ist allen gelungen, wenn in einem Fall auch nur ganz knapp. Der Mittlere misst heute 191 cm, der Älteste 186 cm und die Jüngste 165,5 cm.
Veronica Bonilla Gurzeler
Wir haben mit unserer 1,5-jährigen Tochter ein ausgedehntes Gutenacht-Ritual. Zuerst Zähne putzen und ein Büchlein anschauen. Danach gehen wir in ihr Zimmer und ich erzähle in Geschichtenform, was am heutigen Tag passiert ist und was wir am nächsten Tag machen können. Zum Schluss stellen wir den «Wali» an, das ist ein Projektor, der eine Unterwasserwelt an die Decke wirft und eine Melodie spielt. Mit einem Kuss und einer lieben Umarmung verabschieden wir uns.
Larissa Di Giorgi
Es war nie als Ritual gedacht. Zur Geburt des zweiten Sohnes schenkte mir eine Freundin einen Kühlpad in Maienkäferform. Herzig, dachte ich, legte das rote Ding in den Kühlschrank und vergass es. Erst als mein Sohn anfing zu laufen und sich dauernd irgendwo anstiess, erinnerte ich mich wieder daran. Von da an war der «chalte Chäfer» im Dauereinsatz. Er wurde zum willkommenen Tröster, wirkte schmerzlindernder als jede Salbe und jedes Globuli. Irgendwann hatte der Käfer ein kleines Loch und obwohl es geklebt wurde, verlor er die Hälfte seines Kühlgels. Und fast alle Farbe. Aber es war längst egal. Der «chalte Chäfer» muss bleiben, muss auf jede Beule – auch heute noch. Sollten meine Söhne dereinst selber Kinder haben, weiss ich genau, was sie bekommen, wenn ihre Kinder laufen lernen. Und auch, was ich selbst auch dann immer im Kühlschrank haben werde.
Katja Fischer De Santi
Bei vier Kindern fühlt sich jedes vernachlässigt. Dass ich im Laufe der Kinderleben mit jedem einzelnen, zeitlich völlig unabhängig, ein individuelles Projekt laufen hatte, war jedoch sehr zufällig. Als mein Sohn geboren wurde, war ich 20, mein Partner 19 und in Ausbildung. Für Kino und Kletterwand gabs kein Budget. Darum verbrachten wir viel Zeit im Wald mit Bächeputzen, Baumstämmelaufen, Pilzesuchen und Feuermachen. Noch heute ist mein längst erwachsener Sohn gerne im Wald – und kann nicht auf dem Weg bleiben, wenn er umgefallene Baumstämme sieht. Mit Kind zwei buchte ich einen Kurs in analoger Fotografie. Schön war, den jeweils anderen Blick auf die Dinge zu erkennen, und herauszufinden, was sie berührte und was mich. Kind drei und ich teilten die Liebe für Horsemanship. Unerwartet war, dass ich dabei viel über mich erfahren und dazugelernt habe. Pferde reagieren auf Befehle oder Druck mit Gegendruck und Eigensinn. Also eigentlich wie meine Kinder. Mit Kind vier kochte ich Suppen, welche wir auf dem Samstagsmarkt in Burgdorf verkauften. Am meisten freute sich das Kind übers Einkassieren und Geldrausgeben. «Verkäuferlis» spielen in Echt.
Anita Zulauf