Monatsgespräch
«Eine Stadt muss Platz schaffen für alle»
wir eltern: Früher zogen Paare, kaum war Nachwuchs da, ins Grüne. Heute ist das Wohnen im Zentrum wieder attraktiv. Urban families sind im Trend. Warum?
Anna Schindler: Man kann noch nicht behaupten, Familien zögen das Leben in der Stadt generell dem Leben auf dem Land vor. Ich würde sagen, dass das Leben in der Stadt vor allem für Familien interessant ist, die eine sogenannte urbane Lebensform pflegen. Das sind Familien, in denen beide Eltern einer Erwerbstätigkeit nachgehen. Auch wenn die Kinderbetreuungsinfrastruktur in der Deutschschweiz generell zu bemängeln ist – und ich weiss als dreifache Mutter, wovon ich rede – so ist das Angebot an Krippen, Horten und Tagesschulen in den Städten meist bedeutend besser als auf dem Land. Generell gibt es ein ausgebautes, gut erreichbares Infrastruktur-Angebot von der Schule über Einkaufs- und Freizeitmöglichkeiten bis zum öffentlichen Verkehr. Es ist ein Vorteil für Eltern, wenn sie zwischen dem Wohnen, Arbeiten und der Betreuungseinrichtung kurze Wege haben.
Familien sind, vielleicht mehr als andere Stadtbewohner, auf eine gute Infrastruktur angewiesen. Das ist nicht gratis. Sind Familien für eine Stadt denn überhaupt attraktiv?
Absolut. Sie sind insgesamt die besten Steuerzahler. Die Eltern sind zwischen 35 und 50 Jahre alt und beruflich auf dem Höhepunkt. Aber das ist nur die finanzielle Seite. Die berühmte soziale Durchmischung ist eines der erklärten Ziele des Programms «Wohnen» der Stadt Zürich. Eine Stadt funktioniert nur richtig und nachhaltig, wenn es Platz hat für alle: Alle Altersstufen, alle sozialen Schichten, alle Arten von Arbeitnehmenden vom Büezer bis zum Banker. Die soziale Vielfalt ist elementar für die Lebendigkeit einer Stadt – sie wirkt dem schlechten Image eines Quartiers entgegen oder stärkt den sozialen Zusammenhalt in einem Stadtteil. Das heisst aber nicht, dass jedes Quartier in sich ideal durchmischt sein muss. Die Stadt als Ganzes aber schon.
Welche Visionen schweben Ihnen vor in Bezug auf eine familienfreundliche Stadt?
Es sind weniger städtebauliche Visionen, die mir vorschweben. Ich glaube eher, dass es zuerst eine Entwicklung in der schweizerischen Familienpolitik braucht, die dann auch eine Dynamik in den Städten auslösen kann.
Was meinen Sie damit?
Eine Politik, welche Familien entlastet, sei das steuerlich, sei das im Bereich der Kinderbetreuung, macht das Leben für Eltern und Kinder deutlich angenehmer.
Im März hat das Ständemehr exakt die Vorlage zu Fall gebracht, welche die Vereinbarkeit von Familie und Beruf vereinfachen sollte.
Bei diesem Abstimmungsresultat hat sich gerade der Graben zwischen Stadt und Land gezeigt. Die Stadt Zürich und alle urban geprägten Kantone haben der Vorlage klar zugestimmt.
Was würde eine andere Politik in Zürich denn auslösen?
Hätten wir eine Familienpolitik, die diesen Namen verdient, gäbe es mehr Betreuungs und Bildungskrippen. Ich denke dabei an das Beispiel Skandinavien, wo man im Bereich der Familien-, Bildungs- und Gleichstellungspolitik deutlich weiter ist. Man nimmt dort die Kinder auch ernster. Hier in der Schweiz finden immer noch ideologische Grabenkämpfe statt: Die einen finden, Kinder haben sei Privatsache, andere würden die Kindererziehung am liebsten dem Staat übertragen. Ich vertrete die Haltung, dass die Gesellschaft für die Kinder verantwortlich ist, also wir alle.
Anna Shindler
«wir eltern»
Anna Schindler (45) ist seit November 2011 Direktorin der Abteilung Stadtentwicklung der Stadt Zürich. Sie ist im Kanton Bern aufgewachsen, hat an der Uni Bern Geografie studiert und sich auf den Bereich Stadtentwicklung spezialisiert. Bevor sie die Stelle bei der Stadt Zürich antrat, war sie Dozentin an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) und Redaktorin bei der Fachzeitschrift «werk, bauen und wohnen». Anna Schindler lebt in Zürich und ist Mutter von drei Kindern.
Wie sieht es mit der Verkehrssicherheit für Kinder in der Stadt aus?
Tendenziell werden unsere Strassen immer sicherer. Es gibt trotz höherem Verkehrsaufkommen weniger Todesfälle. Die Kinder werden in der Schule für die Gefahren des Strassenverkehrs sensibilisiert. Kinder, die in einer Stadt aufwachsen, haben kurze Schulwege – viele davon sind verkehrsberuhigt – und sind darum oft sogar weniger gefährdet als Kinder in einem Dorf, wo manchmal gefährliche Landstrassen überquert werden müssen.
Zürich als grösste Stadt der Schweiz kann kaum allen Bedürfnissen der Familien entgegenkommen. Was könnte sie aber besser machen?
Sicher kann und muss Zürich das Kinderbetreuungsangebot steigern. Es ist aber immer eine Frage, womit wir vergleichen. Im internationalen Vergleich stehen Zürich und die Schweiz generell nicht gut da. Nicht nur in der Frage der Betreuungsplätze, sondern auch bei der Dauer des Mutterschaftsurlaubes oder bei den flexiblen Arbeitszeiten für berufstätige Eltern. Innerhalb der Schweiz kann sich Zürich aber sehen lassen. Ausser bei den Tagesschulen: Da haben Bern, Basel und die Romandie die Nase vorn. Immerhin haben wir im Bereich der Krippen- und Hortplätze in den vergangenen Jahren deutlich aufgeholt. Aber der Druck stellt uns auch vor Herausforderungen.
Inwiefern?
Zürich registrierte im letzten Jahr rund 4800 Geburten – seit 2006 liegt die Zahl wieder über 4000 Geburten jährlich, Tendenz steigend. Es ist begrüssenswert, dass die Zahl der Kinder in der Stadt steigt. Wir wissen aber auch, dass all diese Kinder in vier bis fünf Jahren in den Kindergarten und danach in die Schule kommen. Wir haben einen wahnsinnigen Nachholbedarf bei der Schulinfrastruktur. Und das Raumbedürfnis der Schulen steigt gleichzeitig mit der Nachfrage nach Wohnungen. Der Platz in der Stadt ist knapp.
Ist die Grünfläche, der Raum für Spielplätze, bedroht?
In Zürich gibt es sehr viele Spielplätze, Parks und Gewässer. Der Anteil an Naturraum ist relativ hoch und er ist nicht gefährdet. Noch wichtiger für Familien aber ist das unmittelbare Wohnumfeld, das Grün vor der Haustüre. Ich meine nicht die privaten Gärten, sondern das Abstandgrün zwischen den Gebäuden. Die bessere Nutzung dieser Grünflächen ist jetzt, mit dem zunehmenden Platzbedarf, zum Thema geworden.
Heute steht auf solchen Grünflächen: «Bitte Rasen nicht betreten». Der Inbegriff der Kinderfeindlichkeit.
Diese Schilder sind heute zum Glück nicht mehr so häufig zu sehen wie früher. Unsere Gesellschaft ist familienfreundlicher geworden. Mein Eindruck ist, dass sich die Leute nicht mehr so sehr stören an Kinderlärm oder an einem sperrigen Kinderwagen im Tram.
Wohnen in der Stadt ist also praktisch für Familien. Aber wie kann sich eine normale Familie eine teure Zürcher Stadtwohnung leisten?
Natürlich gibt es horrend teure Wohnungen in Zürich. Doch längst nicht alle sind überteuert. Die durchschnittliche Miete für eine bestehende 4½-Zimmer-Wohnung beträgt rund 1700 Franken. Neubauwohnungen kosten im Schnitt 2400 Franken. Die Frage ist: Was ist eine normale Familie? In Zürich haben die meisten Familien zwei Einkommen. Und das ist doch eigentlich richtig so. Denken Sie nur an die Ausbildungskosten, die wir auch in die Frauen investieren. Zusammen verdient eine normale Familie in Zürich also meistens genug, um sich eine Wohnung zu leisten, die 2000 oder 2500 Franken kostet.
Die Stadt will auch die Genossenschaftswohnungen fördern, sie sollen ein Drittel der Mietwohnungen abdecken. Wie weit sind Sie vom Ziel entfernt?
Einen Viertel haben wir bereits. Zürich ist im Vergleich zum Schweizer Durchschnitt weit voraus, weil die Stadt mit dieser Wohnpolitik bereits Anfang des 20. Jahrhunderts begonnen hat. Auch die Stadt Biel ist in dieser Frage vorbildlich. Basel hingegen hat nur rund zehn Prozent an Genossenschaftswohnungen, Bern noch weniger. Das Ziel von einem Drittel hat sich Zürich bis zum Jahr 2050 gesetzt. Ob diese Grösse erreicht wird, kann ich nicht voraussagen. Zumindest stimmt die Richtung, und darum geht es ja: Familien und Menschen mit kleinem Einkommen einen Mindestbestand an gemeinnützigem Wohnraum zu Kostenmiete zur Verfügung zu stellen.
Sie selbst sind auf dem Land aufgewachsen. Ihre Kinder werden im urbanen Umfeld gross. Welches Modell ist das bessere?
Meine Kinder haben wahnsinnig viele Vorteile dank der vorhandenen Infrastruktur für Sport und um viele Leute zu treffen. Aber das Leben auf dem Land, wo man sich niederschwellig trifft, wo man sich findet, ohne lange herumtelefonieren zu müssen, ist natürlich auch etwas Tolles. Ich wohne mit meiner Familie am Zürcher Stadtrand. Da kommen wir in den Genuss einer gewissen ländlichen Qualität mit viel Naturraum. Wohnen am Stadtrand ist in der Schweiz generell sehr attraktiv für Familien.