Gesundheit
«Die Ursachen sind biologisch»

Früher Zappelphilipp, heute AD(H)S: Doch nicht jedes auffällige Kind leidet am Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom.
Herr Professor Barkley, bei immer mehr Kindern wird das Zappelphilipp-Syndrom ADHS diagnostiziert. Sind diese Kinder nicht einfach verwöhnt und schlecht erzogen?
Es gibt keine Beweise, dass ADHS, also die Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung, durch die Erziehung, die Art der Ernährung, den Fernsehkonsum oder die Anzahl Videogames, die das Kind spielt, ausgelöst wird. Die Ursachen sind immer biologischer Natur.
Was heisst das?
ADHS ist ausserordentlich stark genetisch bedingt, wie man es bei psychischen Störungen sonst nur beim Autismus kennt. Fast 65 Prozent aller Fälle gehören in diese Kategorie. Diese genetischen Mängel führen zu einer Entwicklungsverzögerung von Hirnregionen, die entscheidend für die Selbstkontrolle sind. Diese Regionen sind bei ADHS-Kindern kleiner und deutlich weniger aktiv als sie sein sollten. Die restlichen 35 Prozent der Fälle sind auf Schädigungen durch Umweltfaktoren zurückzuführen, die meist während der Schwangerschaft auftreten. Auch für Babys, deren Mütter in der Schwangerschaft rauchen, ist das Risiko für ADHS viel höher, weil Nikotin – und übrigens auch Alkohol – Gift für das Gehirn des Babys ist.
Was ist mit den immer höheren Leistungsanforderungen zum Beispiel in der Schule? Wir zwängen die Kinder heute doch in ein Korsett, das ihnen gar nicht entspricht.
Ja, ohne Zweifel. Eine nachteilige Umgebung beeinträchtigt ADHS-Kinder noch viel mehr. Wenn man zum Beispiel die schulische Umgebung anpassen könnte, wären diese Kinder wieder viel besser in der Schule. Das heisst aber nicht, dass sie kein ADHS mehr hätten.
Aber wieso ist die Zahl der betroffenen Kinder denn so stark angewachsen?
In der Psychiatrie und der Kinderheilkunde wurden diese Leiden früher gar nicht thematisiert, weil schwerere Störungen wie geistige Behinderung oder Autismus im Vordergrund standen. Erst in den 1970er-Jahren erkannten wir, dass Lernstörungen, Lesestörungen, Sprachfehler und das damit verbundene ADHS zu einem Problem geworden sind. Kein Wunder, haben darauf die Diagnosen rasant zugenommen. Ein zweiter Grund sind die gestiegenen Anforderungen in Gesellschaft und Schule. Dies hat die Störung erst an den Tag gebracht, aber es gab sie schon immer.
Vielleicht haben viele ADHS-Kinder gar nicht ADHS, weil die Krankheit mit ähnlichen Störungen verwechselt wird.
Wenn der Arzt entsprechend ausgebildet ist, ist ADHS sehr, sehr einfach zu diagnostizieren. Es gibt keine andere Krankheit, die dasselbe Bild zeigt. ADHS ist ein Mangel an Selbstbeherrschung, bei der die Betroffenen sehr impulsiv sind. Sie nehmen Risiken auf sich, ohne dabei etwas zu überlegen, sie sind sehr zerstreut und reagieren unvermittelt auf alle Einflüsse aus der Umgebung, weil sie eine Reaktion nicht hemmen können.
Woher kommt denn dieser Mangel an Selbstbeherrschung?
Es sind Bereiche im Stirnlappen des Gehirns betroffen, die für die Selbstkontrolle verantwortlich sind. Dieser Teil des Gehirns ist der Arbeitsspeicher oder das Kurzzeitgedächtnis, das uns erlaubt, alle Ziele im Kopf zu behalten. Menschen mit ADHS haben einen schrecklich schlechten Arbeitsspeicher. Beeinträchtigt ist auch das Zeitgefühl. ADHS ist also viel mehr als nur Unaufmerksamkeit.
Die Ritalin-Verschreibungen sind auch in der Schweiz in die Höhe geschossen. Hier wird doch eine ganze Generation einfach ruhig gestellt?
Wenn Sie davon ausgehen, dass soziale Einflüsse wie schlechte Erziehung ADHS verursachen, wäre die Antwort natürlich ja. Aber wie ich bereits sagte, gibt es keinen stichhaltigen Hinweis darauf, dass die Art der Erziehung diese Störung auslöst. Und deshalb geht es nicht ums Ruhigstellen, sondern um die medikamentöse Behandlung einer Störung.
Was genau macht denn Ritalin im Gehirn von ADHS-Kindern?
Ritalin beeinflusst den Dopaminstoffwechsel in den entscheidenden Hirnregionen, der bei ADHS-Patienten gestört ist.
Vor einigen Jahren zeigte eine Studie, dass Ritalin schädliche Langzeitfolgen im Gehirn hat.
Diese Ergebnisse sind widerlegt worden. Ritalin wirkt nur für Stunden. Das Medikament hat keine langfristigen Wirkungen auf das Gehirn und kann deshalb ADHS auch nicht heilen. Aber es hilft den Kindern und ihren Familien, ein normaleres Leben zu führen und letztlich auch, erfolgreicher zu sein. Man weiss zudem, dass Menschen mit ADHS im Durchschnitt früher sterben als andere, weil sie mehr Risiken auf sich nehmen. Deshalb ist es so wichtig, dass die Betroffenen richtig behandelt werden.
Vernachlässigen Sie nicht die Gefahr von Nebenwirkungen einer medikamentösen Behandlung?
Es gibt Nebenwirkungen, aber niemand stirbt wegen Ritalin. Die wichtigsten Nebenwirkungen sind Appetitverlust und Schlaflosigkeit, aber die meisten Patienten lernen, damit umzugehen. Hinzu kommen bei etwa 20 Prozent der Fälle Kopfschmerzen, die tatsächlich belastend sind, die man jedoch lindern kann, wenn die Dosis angepasst wird. Etwa 10 Prozent leiden an leichten Formen von Depressionen. Schliesslich gibt es noch 3 Prozent der Patienten, die Halluzinationen bekommen oder sehr aggressiv werden. Diese Patienten – man weiss nicht genau, was bei ihnen diese Nebenwirkungen auslöst – können keine medikamentöse Therapie machen.
Wer schon im Kindesalter regelmässig Pillen nehmen muss, wird süchtig.
Die Suchtgefährdung ist eine der Nebenwirkungen, die dem Ritalin und anderen Medikamenten mit dem Wirkstoff Methylphenidat fälschlicherweise nachgesagt wird. Diese Medikamente machen nicht süchtig, wenn man sie ordnungsgemäss einnimmt. Wir haben viele Studien gemacht und alle haben gezeigt, dass Kinder, die mit Ritalin behandelt worden sind, später nicht anfälliger auf Drogensucht oder Rauchen sind.
Die Übermedikalisierung der Gesellschaft und vor allem von psychiatrischen Krankheiten ist ein Punkt, der vielen Menschen sauer aufstösst.
Es gibt einen einfachen Grund, wieso es so viele Widerstände gegen die Behandlung mit Ritalin gibt: Die Mehrheit der Bevölkerung denkt, dass die Verhaltensprobleme der Kinder soziale Ursachen hätten. Die Leute glauben immer noch, dass Kinder nur durch die Erziehung zu dem gemacht werden, was sie sind. Diese Sichtweise entspricht der Lehre der Psychoanalyse, sie entspricht den Ideen des Behaviorismus und sie stammt aus dem Marxismus. Doch diese Ideen sind schlicht und einfach falsch. In über 7000 Studien konnte klar gezeigt werden, dass ADHS nur biologische Ursachen hat. Wir werden uns also davor hüten, eine unbewiesene psychoanalytische Theorie zur Erklärung von ADHS heranzuziehen und die harten Beweise über Bord zu werfen.
Es reicht also vollkommen aus, dem Kind Ritalin oder ein anderes Medikament zu verabreichen?
Sicher nicht. Das Wichtigste nach der Diagnose ist nicht das Medikament, sondern dass die Eltern gut aufgeklärt werden. Sonst sind sie überfordert. Bald schreien sie das Kind an und bestrafen es, weil sie denken, dass sie nur die richtige Strategie finden müssen, um aus dem ADHS-Kind ein normales Kind zu machen. Doch das wird nicht geschehen. Erst wenn die Eltern Verständnis für das Kind und seine Störung haben, muss das richtige Medikament gesucht werden. Dies allerdings noch bevor eine psychologische Behandlung angegangen wird. Denn alle Studien haben gezeigt, dass die medikamentöse Therapie effizienter ist. Das heisst aber nicht, dass sie den vierten Punkt, eine psychologische Behandlung und entsprechende Massnahmen im Umfeld, in der Familie oder in der Schule nicht auch ergreifen müssen.