
zvg von Annette Lory
Familie / Binationale Ehe
«Die Entführung des Kindes geschieht aus Verzweiflung.»
Annette Lory berät und unterstützt Mütter und Väter, deren Ex-Partner das Kind ins Ausland entführt haben.
- Halten Sie Kontakt zum anderen Elternteil und vermeiden Sie Konflikte.
- Widersetzen Sie sich nicht grundlos dem Kontakt des anderen Elternteils mit dem Kind. Ist das Besuchsrecht ein zu grosses Risiko: Leiten Sie rechtliche Schritte ein.
- Bleiben Sie wachsam, wenn der andere Elternteil sein Verhalten ändert: Fragen zum Pass des Kindes, Kündigung des Jobs, Kauf von Tickets, usw.
- Informieren Sie Ihre Familie, Krippe, Schule, Nachbarn. Stellen Sie sicher, dass diese Ihnen bei beunruhigenden Vorkommnissen Bescheid geben.
- Bewahren Sie die Ausweispapiere Ihres Kindes sicher auf.
- Lassen Sie sich beraten.
wir eltern: Frau Lory, wie geht es Müttern und Vätern, deren Kind vom Ex-Partner ins Ausland gebracht wurde?
Annette Lory: Für die meisten ist es ein Schock. Sie rufen sehr aufgelöst bei uns an, beruhigen sich aber meist schnell, wenn sie hören, dass sich das Kind in einem Haager-Land* aufhält. Normalerweise werden die Haager-Fälle vom Bundesamt für Justiz (BJ) zusammen mit den ausländischen Zentralbehörden weiterbearbeitet. Das BJ hilft, Rückführungsanträge auszustellen. Wünschenswert wäre, dass der zurückbleibende Elternteil bald wieder persönlichen Kontakt zum Kind aufnehmen kann.
Bei Ihnen – dem Internationalen Sozialdienst – bleiben die Nicht-Haager-Fälle hängen. Sind diese schwieriger zu lösen?
Ja, leider. Oft müssen wir den Betroffenen beibringen, dass wir ihre Kinder nicht zurückholen können. Es ist sinnlos, den Eltern falsche Hoffnungen zu machen. Viele Staaten haben das Haager Abkommen nicht unterschrieben – dazu gehören die meisten arabischen Länder und viele afrikanische oder asiatische Staaten. Hier stehen die Chancen für eine Rückführung sehr schlecht, weil es schlicht keinen gemeinsamen rechtlichen Rahmen dazu gibt.
Wie können Sie dennoch helfen?
Wir versuchen es mit Mediation. Zusammen mit unseren Partner-Organisationen vor Ort suchen wir das Gespräch mit dem entführenden Elternteil. Die zurückbleibenden Mütter und Väter entwickeln nach dem ersten grossen Schrecken einen enormen Kampfgeist. Manchmal dauert es aber Monate oder gar Jahre bis zu einem Wiedersehen.
Was bedeutet es für die Kinder, plötzlich in einer völlig anderen Kultur zu leben?
Für ein Kind ist es traumatisch, von einem Moment auf den anderen einen Elternteil nicht mehr bei sich zu haben. Wir versuchen die Fäden so zu verknüpfen, dass die entführten Kinder zumindest wieder Kontakt aufbauen können – meist zunächst telefonisch oder per Skype. Kann der zurückbleibende Elternteil die «neue Normalität» trotz aller Widrigkeiten ein Stück weit akzeptieren, steigt die Chance für einen Besuch. Dabei versuchen wir vor Ort ein Setting zu installieren, das gewährleistet, dass das Kind nicht wieder heftigen Konflikten ausgesetzt ist.
Sind sich entführende Väter und Mütter bewusst, welchen Schaden sie ihren Kindern zufügen?
Entführungen sind fast immer die Folge von Konflikten zwischen dem Paar. Oft geht es darum, sich am Ex-Partner zu rächen oder Macht zu demonstrieren, meist stehen aber persönliche Not und Verzweiflung im Vordergrund, die so gross ist, dass die Entführenden nicht mehr in der Lage sind, das Wohl des Kindes ins Zentrum zu stellen. In diesem Sinne ist eine Kindsentführung ein egoistischer Akt. Erfahrungsgemäss sind es manchmal auch die Familien der Kindesväter oder Mütter, die Druck machen, dass ein Kind im Kulturkreis ihres Heimatlandes aufwächst.
Die neue Lebensrealität der Kinder ist jedoch nicht immer nur schlecht. Wir klären zum Beispiel ab, ob sie sozial gut eingebettet sind und verlässliche Bezugspersonen haben. Wir hatten schon Fälle, in denen ein Kind in der Schweiz in einem Heim lebte. Es wurde vom Vater in seine Heimat entführt. Nach Abklärungen unserer Partner vor Ort mussten wir eingestehen, dass das Kind in der grossen Familie des Vaters gut aufgehoben war und es sich geborgen fühlte._
Was, wenn eine Mutter oder ein Vater sich selber auf den Weg machen will, um das Kind zurückzuholen?
Den Kontakt mit dem Kind möglichst rasch wieder herzustellen, ist auch unser Ziel. Wir raten aber davon ab, eine Rückführung auf eigene Faust zu versuchen! Meist findet man sich schnell in einem illegalen Umfeld mit Schlepperbanden wieder und setzt das Kind unkalkulierbaren Risiken aus. Für den zurückgebliebenen Elternteil kann die Reise ins Land des neuen Aufenthaltsortes des Kindes auch Risiken bergen. In manchen arabischen Ländern sind die Gesetze oft völlig verschieden von unseren. Eine nachreisende Mutter muss damit rechnen, selber nicht mehr ausreisen zu können. Denn in einigen Ländern haben die Männer das Recht, nicht nur für die Kinder, sondern auch für ihre Schweizer Ehefrauen gesetzlich eine Ausreisesperre zu erwirken. Das sind zum Teil sehr patriarchalische Strukturen. Selbst wenn ein Paar bereits in der Schweiz geschieden wurde, ist in gewissen Ländern eine Scheidung nur anerkannt, wenn diese vom Mann eingereicht wurde.
*Die Schweiz ist über das Haager Übereinkommen bei Kindsentführungen mit rund 120 Staaten vertraglich verbunden. Ziel ist die möglichst rasche Rückführung von Kindern, die in einen Vertragsstaat entführt wurden oder dort festgehalten werden.
Annette Lory ist Sozialarbeiterin und Mediatorin beim Internationalen Sozialdienst. Das in über 140 Ländern tätige Netzwerk engagiert sich bei transnationalen sozialen und rechtlichen Problemen im Bereich des Kinderschutzes.