Patchworkfamilien boomen, Probleme in Patchworkfamilien auch. Ein Gespräch mit Henri Guttmann, Paartherapeut aus Winterthur, über Blut, Solidarität und ein «Grüezi».
wir eltern: Kein Film, keine Serie, keine Boulevard-Gazette kommt heute ohne Stief-Familie aus. Sind in Ihrer Praxis Patchwork-Paare ähnlich stark vertreten?
Henri Guttmann: Ja. Das ergibt sich rein rechnerisch: 50 Prozent der Ehen werden geschieden, 80 Prozent der Getrennten haben innerhalb von 5 Jahren eine neue Beziehung ... Da kommen einige zusammen. Auch einige Probleme. Es wird geschätzt, dass 65 Prozent der Patchwork-Familien scheitern.
Auf die Gründe dafür kommen wir noch. Vorab: Gibt es eine Konstellation, die besonders schwierig ist?
Sie hat Kinder, er hat Kinder, die beiden haben zusammen auch noch Kinder. In der Art: «Deine Kinder und meine Kinder verhauen zusammen unsere Kinder». Hier prallen unterschiedliche Vorstellungen von richtiger Erziehung aufeinander, dann gibt es das Moment der Konkurrenz, Verlustangst, Eifersucht, Blutsverwandtschaft – das komplette Programm…
Blut – das klingt ein bisschen angestaubt nach Blutrache und Blutsbruder. Aber in «Folge-Familien» scheint der alte Spruch «Blut ist dicker als Wasser» zeitlos zu sein.
Reflexartig Partei für das leibliche Kind zu ergreifen, führt zu einer Spaltung der Paarebene. Kein hilfreiches Konzept. Ich vertrete vielmehr die Devise: «Partnerschaft vor Elternschaft.» Sonst fühlt sich der neue Partner rasch im «Offside».
Wie bitte? Nicht die Kinder gehen vor?
Nein. Ich nenne ein Beispiel: Der Sohn der Mutter wäscht sich nach dem WC-Gang und vor dem Essen nicht die Hände und langt dann das Brot im Brotkorb an. Mutters neuer Partner findet das eklig und sagt das in ruhigem Ton. Ergreift die Mutter jetzt Partei für ihren Sohn – etwa, «das musst du nicht so unfreundlich sagen», spürt der Partner die Solidarität nicht mehr. Denn eigentlich hätte er Unterstützung durch seine Partnerin erwartet. Nimmt die Mutter jetzt reflexartig ihren Sohn vor dem Partner in Schutz, ist das fatal. Schnell bekommt der Patchworker dann das, was ich das «Hab-ich-das-nötig- Syndrom» nenne. Kommt so etwas häufiger vor, wird der Partner, der sich ausgeschlossen fühlt, aussteigen. Genauso wenn einer der Partner das Gefühl vermittelt, an erster Stelle kommt für mich mein Kind, dann der Beruf und dann… Auf die hinteren Ränge hat in der Liebe niemand Lust.
Trotzdem scheint «sich im Hintergrund zu halten» für neue Partner eine Tugend zu sein. Darf man überhaupt das Stiefkind, anraunzen? Kommt dann nicht «Du hast mir gar nichts zu sagen»?
Natürlich kommt das. Am besten ist es, wenn der leibliche Elternteil, vor allem im ersten Jahr, die Rolle des Buh-Manns übernimmt und jedes Massregeln übernimmt. Zunächst geht es darum, eine gute freundschaftliche Basis mit jedem Kind der Familie zu schaffen.
Die nicht immer entsteht.
Das muss man akzeptieren. Es sollte einem dennoch gelingen, ein höfliches «Grüezi» und «Gute Nacht»-Level zu erreichen. Wie in einer WG. Und – man darf sich keine Illusionen machen: Wenn das Kind des Vaters am Wochenende zu Besuch kommt, dann hat es schlicht weniger Interesse an der neuen Partnerin, sondern hauptsächlich an seinem Vater. Punkt. Ebenso sollte man akzeptieren, dass Eifersucht und Besitzstandswahrung in den Flickenteppich miteingewebt sind. Einen auf Friede, Freude, Eierkuchen zu machen bringt nichts. Kleinkinder mögen noch unproblematisch sein, doch grössere Kinder und Pubertierende werden mit Sicherheit testen, ob sich der Eierkuchen nicht kaputt machen lässt.
Klingt beängstigend.
Sagen wir so: Es ist eine Herausforderung. Ein paar Dinge im Hinterkopf zu haben, kann hilfreich sein: 1. Die Patchwork-Familie ist kein Remake der Erst-Familie, sondern etwas Eigenes. 2. Schuldgefühle – etwa den Kindern gegenüber – sind schlechte Ratgeber. 3. Falls das Geld reicht, überlegen, ob «living apart together» vorerst nicht die bessere Lösung ist. 4. «Wir als Paar haben auch eigene Bedürfnisse, die Zeit brauchen!» ist kein egoistischer Gedanke.
Und wenn man sich von der Situation trotz aller Bemühungen überfordert fühlt? Wer entsprechende Foren liest merkt, wie schwer sich viele tun. Was tun?
Hilfe holen. Früh. Bevor zu viel Geschirr zerschlagen ist. Und sich manchmal damit trösten: «Auch intakte Familien sind keine konfliktfreie Zone». Niemals.