Elternliebe
Das Lieblingskind ist ein Tabu
wir eltern: Mütter und Väter behaupten stets mit Nachdruck, alle Kinder gleich gern zu haben. Stimmt das überhaupt?
Prof. Jürg Frick: Natürlich nicht. In Wahrheit ist es doch meist so, dass sie sich einem Kind aus unterschiedlichsten Gründen näher fühlen, eher einen Zugang zu ihm haben. Da hat der Sohn das gleiche Grübchen wie der geliebte Grossvater, die Tochter die Eigenschaft, die man schon am Partner hasst. Oder das Kind hat den gleichen Humor wie man selbst – wahlweise gar keinen. Selbstverständlich gibt es grössere oder geringere Affinitäten. Zum Glück wechselt das meist phasenweise.
Und wenn das «Lieblingskind» nicht wechselt?
In einem solchen Fall ist Ehrlichkeit ausnahmsweise mal völlig fehl am Platz. Vorlieben auszusprechen ist tabu. Sie offen zu zeigen auch. Eltern müssen hier gegensteuern. Sich fragen, woran die engere Beziehung zu einem Kind liegt und sich unbedingt bemühen, auch Zugang zum anderen zu finden. Gelingt das nicht, würde ich dringend empfehlen, die Hilfe einer Fachperson in Anspruch zu nehmen. Für ein Kind kann das Gefühl: «Ich werde nicht gemocht», zu einer Katastrophe werden.
Erstes Gebot ist also: Alle Kinder gleich behandeln?
Keinesfalls. Nicht gleich, sondern fair. Gleichheit kann ungerecht sein. Ist doch klar, dass ein 2-Jähriges die Schuhe gebunden bekommt und ein 8-Jähriges nicht. Kinder verstehen diese Form der Ungleichbehandlung sehr gut. Altersgemässe Rechte und Pflichten, Privilegien und Aufgaben – das entspricht ihrem Gerechtigkeitssinn.
Welches Kind in der Geschwisterreihenfolge hat nun das Trumpfass gezogen?
Das kann man nicht sagen. Jede Position hat Vorteile – und auch mögliche Risiken. Dem Erstgeborenen wird viel zugetraut, aber es wird auch leicht überfordert. Das Mittlere kann nach oben und nach unten profitieren oder auch von zwei Seiten Druck erhalten. Das Jüngste kann das Sonnenscheinchen sein oder aber dasjenige, das selten etwas nie Dagewesenes tun kann und nicht ernst genommen wird. Das Einzelkind bekommt viel elterliche Aufmerksamkeit – manchmal zu viel – und hat wenig Bündnispartner…
Dennoch wird die Ein-Kind-Familie immer häufiger.
Stimmt. Und die Bedingungen, die Eltern vorfinden, legen das auch nahe. Mehrere Kinder zu haben, ist in unserer Gesellschaft ein Armutsrisiko, ein Karrierekiller. Da muss sich vieles ändern. Denn eigentlich, wenn der Rahmen stimmt, dann würde ich doch klar für ein paar Kinder plädieren. Geschwister sind nämlich etwas Tolles.
Und trotzdem: Schwierige Geschwisterbeziehung sind offenbar viel häufiger ein Grund für psychische Probleme, als man lange Jahre angenommen hat.
Das ist wahr. Früher hat man fast ausschliesslich auf die Eltern-Kind-Beziehung geschaut. Aber die horizontale Ebene, das Geschwisterverhältnis, ist enorm wichtig. Wer wird mehr geliebt? Wer ist besser? Was kann ich gut? Was schlecht? Daran bildet sich die Identität.
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Zur Person**
Jürg Frick, Prof. Dr. phil., Psychologe FSP; individualpsychologischer Berater SGIPA, ist seit 2002 Dozent und Berater an der Pädagogischen Hochschule Zürich. www.juergfrick.ch
Buch von Jürg Frick: «Ich mag dich – du nervst mich»