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Wollknäuel des Trostes
Es ist so still. Eben standen wir uns im kleinen Wohnzimmer noch auf den Füssen, fünf angespannte Erwachsene und ein Kind, das spielen will, Koffer und Taschen, überall. Wir hatten doch nur das Nötigste hier in Zürich behalten und alles andere schon nach Lissabon geschickt? Das «Nötigste» könnte unseren Siebenplätzer mehrfach füllen. Das Auto ist zum Bersten voll. Einmal Winken noch, dann sind sie weg. Mein Schwiegervater und dessen Schwager sind ein paar Tage zuvor aus Portugal hergeflogen, nun begleiten sie meinen Mann und unseren Sohn auf der langen Autofahrt dorthin. Meine Mutter steht neben mir im Hauseingang, sie trägt denselben fellgefütterten Mantel, den sie schon hatte, als ich so alt war wie ihr Enkel es jetzt ist. Ihr Gesicht verschwindet fast in der weichen Kapuze, ich verabschiede mich von ihr mit einem Kuss auf die Wange und gehe zurück in die Wohnung meines Vaters und seiner Frau. Sie sind nicht da, ich bin allein zu Hause.
Es ist Dezember 2013. Drei Monate der Trennung liegen nun vor uns. Mein Mann wird im Januar seinen neuen Job in Lissabon antreten, während ich bis zur Geburt unseres zweiten Sohnes in Zürich als Redaktorin weiterarbeite und unser Grosser bei seinen Grosseltern und Grosstanten in der Nähe von Porto bleibt. Er wird es gut haben dort, er wird Hühner füttern und Sanddünen hinunterrutschen, ich werde ihn alle paar Wochen besuchen und ihm jeden Abend am Bildschirm Gute Nacht sagen können. Ich hätte es mir nicht zugetraut, die letzten Schwangerschaftsmonate alleine mit ihm in der Schweiz zu verbringen. Aber trotzdem: Ist es richtig?
Die kurzen Wintertage vergehen langsam. Manchmal bleibe ich am Ende meines Arbeitstages noch im Büro sitzen und suche akribisch nach Strickmustern für Kindermützen und Babydecken. Ich habe mich verbissen ins Stricken, es nimmt den ganzen freigewordenen Platz in meinem Kopf ein, selbst wenn ich im Schwimmbad meine Bahnen ziehe, denke ich über tiefergestochene Maschen, Nadelstärken und Farbkombinationen nach. Schwimmen und Stricken, Stricken und Schwimmen. Die Routine hat etwas Tröstendes, sie füllt Feierabend und Wochenenden, die Sehnsucht nach dem Geruch meines Kindes aber, nach dem kleinen Körper, der sich frühmorgens im Bett an mich schmiegt, den weichen Fussballen, die sich fordernd in meinen Bauch drücken, sie bleibt.
Zwischendurch treffe ich mich mit Freunden, es sind Abschiedsessen, die stets damit enden, dass ich alle möglichen Gelegenheiten aufzähle, an denen wir uns in den kommenden Wochen noch begegnen könnten. Einmal bin ich zu einer Geburtstagsfeier eingeladen, es wird einer dieser Abende, an denen irgendwann alle im Wohnzimmer der Gastgeberin tanzen. Nur zwei Wochen fehlen noch bis zum errechneten Geburtsterim und nur wenige Tage, bis mein Mann und unser Sohn wieder in der Schweiz sind. Mein iPhone steckt in der Stereoanlage, wir wippen gerade zu den Songs meiner bescheidenen Playlist, als eine Klingelmelodie den Raum füllt. Es ist Mitternacht und mein Vater erkundigt sich leicht besorgt nach dem Verbleib seiner Tochter. Die Frauen um mich herum – es sind kaum mehr Männer da – kriegen sich kaum ein vor Lachen, ich lache mit und bin auch ein wenig gerührt. Mit 36 Jahren bin ich also immer noch jemandes Kind. Und in ein paar Tagen zum Glück auch wieder Mutter.
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Ümit Yoker (Jahrgang 77) hätte nie gedacht, dass sie je einen grösseren Umzug wagt als einst den vom zugerischen Baar nach Zürich. Doch die Tochter eines Türken und einer Schweizerin sollte die grosse Liebe in Form eines Portugiesen finden, und nach ein paar gemeinsamen Jahren in der Schweiz und der Geburt von zwei Söhnen zieht die Familie 2014 nach Lissabon. Hier hat sich die Journalistin bisher noch keinen Augenblick fremd gefühlt. In ihrem Blog erzählt sie von Neuanfang und Alltag in der Ferne.