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Wahrheit ist auch nur eine Form der Lüge
zvg
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Mit Erziehung ist das so eine Sache. Manche Vorsätze, die man mit viel Elan beim ersten Kind gefasst hat, erweisen sich später als völliger Unfug. Sich jeden Tag bei noch so beschissenem Wetter zwingen, wenigstens einmal mit dem Nachwuchs rauszugehen, ist zum Beispiel so ein Unfug. Oder diese Windeleimer mit den zudrehbaren Schlauchtüten. Oder dieses Riesentheater um die Nahrungsumstellung von flüssiger auf feste Nahrung. Vor allem aber dieser unfassbar hohe moralische Anspruch, den wir Kindern gegenüber haben. Edel sei das Kind, hilfreich und gut. Nicht gemein zu andern, tolerant, hilfsbereit und nicht so smartphonesüchtig. Finden wir zumindest, wären wir auf der Landstrasse fluchend den Vordermann weghupen, auf dem Handy herumdaddeln und versuchen, beim Finanzamt mit semilegalen Tricks und ein paar Erinnerungslücken ein bisschen Geld zu sparen.
Vor allem aber sollen Kinder nicht lügen. Am besten immer und in jeder Lebenslage die Wahrheit sagen. Dabei wissen wir doch, dass das nicht nur unmöglich ist, sondern auch gefährlich wäre. Wahrheit ist in diesem Zusammenhang auch nur eine Form der Lüge. Denn sie tut so, als wäre jede Situation der anderen gleich. Zu verheimlichen, dass man in der Schule gemobbt wird, ist aber nicht das gleiche Kaliber wie die Tatsache zu verschweigen, dass man heute schon was Süsses hatte, damit man noch mal Nachtisch bekommt. Die Bekannten, die einmal im Jahr vorbeikommen, verdienen die Wahrheit nicht so sehr wie Mama und Papa. Und der Typ, der laut schreiend fragt, wer den Ball in die Scheibe gekickt hat, verdient sie schon gar nicht.
Das heisst nicht, dass man Kinder dazu ermutigen sollte, notorische Lügner zu werden. Es heisst nur, dass es sinnvoll und richtig ist, der Lehrerin nicht immer zu sagen, was man von ihr hält. Oder dem Kind, mit dem man sich anfreunden will, keinen Vortrag über seine Hautunreinheiten zu halten. Es heisst schlicht, dass Kinder lügen dürfen und lügen dürfen müssen. Lügen schafft Privatsphäre und Geheimnisse. Und es mündet in die Entscheidung, wen ich bei welcher Sache schliesslich doch in die Wahrheit mit einbeziehen möchte. Das ist grundsätzlich nur schwer auszuhalten und im Einzelfall oft genug schier unerträglich. Aber zugleich ist es – korrigiert mich, falls ich da irre – ein zentraler Aspekt des Erwachsenwerdens.
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Nils Pickert (1979), geboren in Ostberlin, nach dem Mauerfall mit einer waschechten Kreuzbergerin angebändelt. Gegenwärtig 4 Kinder: Emma (12), Emil (10), Theo (2½) und Maja (bald 1). Arbeitet als freier Journalist für diverse Medien und als Weltverbesserer bei dem Verein Pinkstinks, der sich unter anderem gegen Sexismus in der Werbung engagiert. Wurde von der «Weltwoche» mal als «maximal emanzipierter Mann» beleidigt, findet aber, dass ihm der Titel steht. Bloggt für «wir eltern» über Alltag mit Kindern, gleichberechtigtes Familienleben, neue Väter, Elternbeziehungen, Erziehungswahnsinn. Alle Blogg-Beiträge von Nils Pickert finden Sie hier.