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Vom Luxus des Keifens
Formeln sind eine tolle Sache. Knackig. Kurz. a2 + b2 = c2. Im rechtwinkligen Dreieck des Pythagoras ist die Welt noch in Ordnung, da kann alles andere im Chaos versinken. An seinen beiden Katheten können wir uns auch dann festhalten, wenn die Unberechenbarkeit des Lebens uns wieder einmal fortzuschwemmen droht.
Manchmal beschleicht mich aber das Gefühl, dass wir auch Ausmass und Tiefe der Mutterliebe gerne griffig mit ein paar Buchstaben und Zahlen bestimmen würden. Denn: Dass wir selbst tolle Mütter sind, wissen wir natürlich. Schliesslich ist von allen möglichen Varianten des Familienlebens gerade unsere die beste fürs Kind, für unseres im Speziellen, aber, wenn mans recht bedenkt, eigentlich für alle Kinder dieser Welt. Was für ein Zufall aber auch, dass gerade wir das Glück hatten, intuitiv alles richtig zu machen, oder? Unsere eigene Liebe zu den Kindern müssen wir also nicht mehr berechnen. Aber was ist mit all den anderen Müttern, insbesondere denjenigen, die in der Migros manchmal einen Becher abgepacktes Apfelmus für ihre Kleinen kaufen anstatt dieses am heimischen Herd liebevoll summend zuzubereiten?
Man behelfe sich zum Beispiel mit einer einfachen Gleichung: Die Grösse der Mutterliebe (M) als Differenz der in Prozentzahlen ausgedrückten Zeit, die ich zu Hause (H) mit meinen Kindern verbringe, und der Zeit, in der ich anderswo einer bezahlten Arbeit (A) nachgehe. H – A = M. Simpel. Gehe ich also einen Tag pro Woche ins Büro, liebe ich meine Kinder immerhin noch zu vier Fünfteln so sehr, wie ich sie eigentlich lieben könnte. Mit einer Halbtagesstelle ist es mir dann leider schon ziemlich egal, wenn meine Tochter sich das Knie aufschürft, und danach geht es nur noch abwärts. Was wohl im Herzen einer Mutter mit einem Vollzeitjob vorgeht? Bei minus 100 Prozent Mutterliebe? Mein Gott, das wollen wir lieber gar nicht wissen, oder?
Das Lustige daran: Es haben längst nicht alle Mütter eine Wahl. In den eineinhalb Jahren, in denen ich inzwischen in Portugal lebe, habe ich genau eine einzige Hausfrau kennengelernt. Ihr Mann schenkt ihr regelmässig neue Häuser. Stay-at-home Mom und Teilzeitstellen sind Fremdwörter und selbst wenn sie im Vokabular von Arbeitgebern und Politikern existierten, könnten die meisten Mütter und Väter keinen Gebrauch davon machen, denn die finanzielle Einbusse wäre zu gross. Aber anstatt in der Schweiz auch einmal den Umstand zu feiern, dass wir unser Familien- und Arbeitsleben deutlich selbstbestimmter gestalten können als anderseits und anderswo, begegnen wir jeder Frau, die es anders macht als wir, mit Misstrauen. Anstatt die Solidarität unter Mamis, dieses ausgedörrte Pflänzchen, zu pflegen, wettern wir lieber lauthals in Internetforen und Kommentarspalten übereinander oder verurteilen bei zufälligen Begegnungen auf dem Spielplatz ganz leise: Schlussändlich muess das natürlich jedi Mutter sälber wüsse. Ich meine ja nur, weisch, es wär sicher guet für d Chind. Hey, isch nume e Frag gsi. Klar. Den Luxus dieses Gekeifes können sich andere Mütter schlicht nicht leisten.
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Ümit Yoker (Jahrgang 77) hätte nie gedacht, dass sie je einen grösseren Umzug wagt als einst den vom zugerischen Baar nach Zürich. Doch die Tochter eines Türken und einer Schweizerin sollte die grosse Liebe in Form eines Portugiesen finden, und nach ein paar gemeinsamen Jahren in der Schweiz und der Geburt von zwei Söhnen zieht die Familie 2014 nach Lissabon. Hier hat sich die Journalistin bisher noch keinen Augenblick fremd gefühlt. In ihrem Blog erzählt sie von Neuanfang und Alltag in der Ferne.