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Menschen, die nach Melone riechen
Sind es die bügelfreien Hemden? Früher glaubte ich, man könne sie anhand ihrer Kleider identifizeren: Pflegeleichte Stoffe, unauffällige Farben, beige, dunkelblau, gut kombinierbar, praktische Schuhe, was auch immer das heissen mag. Kleider, die aussehen, als ob sie sonst nie getragen würden und die trotzdem nicht neu wirken. Inzwischen weiss ich, dass man sie auch erkennt, wenn sie hübsche Sommerkleider und adrette Poloshirts tragen. Und längst nicht alle von ihnen halten Rucksäcke mit neonfarbenen Streifen für unverzichtbar oder haben Kameraausrüstungen am Hals baumeln, die einen portugiesischen Jahreslohn kosten. Viele kommen gar ohne Bauchtaschen aus.
Doch selbst ohne zerknitterten Stadtplan in der Hand – Touristen verraten sich mit jedem Schritt. Dabei haben sie ja wenig gemeinsam: Einer redet Spanisch, ein anderer Französisch, manche irren auf Englisch durch die verzweigten Altstadtgässchen Lissabons, manche auf Deutsch, sie reisen aus Russland her, aus China und der Schweiz, sind zu zweit unterwegs oder in grossen Gruppen, es gibt Junge, es gibt Alte. Die Städtereisenden sind mein Studienobjekt dieser Tage, ich begegne ihnen, wenn ich Brötchen kaufe und Reinigungslösung für meine Kontaktlinsen, sie sind hinter und vor und neben mir. Geduldig stehen sie selbst bei brütender Hitze für eines dieser Cremetörtchen an, für die das Quartier, in dem wir jetzt wohnen, so berühmt ist, ich staune Tag für Tag. Es ist also ihr Tempo, das sie von anderen Menschen unterscheidet: Während der Lissabonner, wie es die Bewohner einer Stadt eben so tun, entschlossenen Schrittes zur Bushaltestelle schreitet oder zum Supermarkt, nicht den Weg, sondern das Ziel zum Ziel hat, schlendert der Städtereisende, bleibt stehen, blickt um sich und hoch und das den ganzen Tag.
Aber da ist noch etwas anderes. Touristen, insbesondere aber Touristinnen, scheinen auf ihren Stadterkundungen selbst an hochsommerlichen Nachmittagen, selbst bei 38 Grad im Schatten stets nach Melonenduschgel und Vanilleshampoo zu riechen. Denn nach dem Mittagessen legen sie sich ja erst einmal hin, dösen auf einem frisch bezogenen Hotelbett, das Gesicht vergraben in dicken Kissen weich wie Wolken, die Balkontüre offen, damit die Brise sie findet. Beim Duschen hat das Wasser dann auf Anhieb die richtige Temperatur, der Druck des Strahls lässt die Haut angenehm kribbeln, sie cremen sich ausgiebig ein, schlüpfen in die bequemen Schuhe. Entspannung strömt aus jeder ihrer Poren, als sie schliesslich am Tejo ankommen, demselben Fluss, an dem ich gerade meine Kinder spazierenfahre, mit zerknitterter Bluse (nein, eine bügelfreie kommt mir nicht ins Haus) und wirrem Haar, Avocadoflecken auf den Shorts. Im besten Fall rieche ich nach Suppe und Petit Beurres. Ich bin ja nur neidisch.
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Ümit Yoker (Jahrgang 77) hätte nie gedacht, dass sie je einen grösseren Umzug wagt als einst den vom zugerischen Baar nach Zürich. Doch die Tochter eines Türken und einer Schweizerin sollte die grosse Liebe in Form eines Portugiesen finden, und nach ein paar gemeinsamen Jahren in der Schweiz und der Geburt von zwei Söhnen zieht die Familie 2014 nach Lissabon. Hier hat sich die Journalistin bisher noch keinen Augenblick fremd gefühlt. In ihrem Blog erzählt sie von Neuanfang und Alltag in der Ferne.