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Mein Drache, dein Drache
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Ümit Yoker
Wenn die Cousine meines Mannes zu ihrem Freund geht, sagt sie nicht: «Ich gehe zu meinem Freund», wie man das wohl auf Deutsch ankündigen würde. Sie werde seine «Terra» besuchen, erklärt sie stattdessen. Denn wo jemand herkommt, so der Portugiese, dort ist die Terra. Ich stelle mir dann immer vor, wie ihr Freund gerade auf einem verlassenen Flecken Land irgendwo ein Häufchen Erde aufhebt und es durch die Finger rieseln lässt, bevor er einen Pfahl mit Familienwappen in den Boden rammt. Manchmal sagt die Cousine meines Mannes auch, sie fahre nach Santa Maria da Feira, denn so heisst das Städtchen, aus dem ihr Freund kommt. Das klingt ja nun aber für ein Ohr, das sich Ortsnamen wie Dürnten und Cham gewohnt ist, ebenfalls weniger nach durchschnittlicher Kleinstadt als nach einem Fantasiereich, in dem Königinnen mit weissblondem Haar und feuerspeiendem Nachwuchs ... Ihr wisst schon, was ich meine. Es fehlt eigentlich nur noch die Besetzung von Game of Thrones.
Meine Terra.
Was entscheidet eigentlich darüber, wo wir uns zugehörig fühlen? Die Sprache? Die Eltern? Die Zeit? Als ich vergangenes Wochenende mit Mann und Kindern in Lissabon den Adventsbasar der deutschsprachigen Kirchgemeinden besuche, bin ich einmal mehr erstaunt darüber, wie verhaftet Menschen in einem Land sein können, das sie hauptsächlich aus den Ferien kennen oder dem sie schon vor Ewigkeiten den Rücken gekehrt haben.
Da ist Thomas, Sohn einer Schweizerin und eines Schweizers, in Portugal geboren und aufgewachsen, der Witze über Aargauer macht, als hätte er zeitlebens keine anderen gehört.
Da sind Stefan und Marianne, die den grössten Teil ihres Lebens im Ausland verbracht haben, lange Zeit in Indonesien lebten und in Brasilien, und sich vor einigen Jahren im portugiesischen Estoril niedergelassen haben. Aber wenn Stefan davon erzählt, dass er im Mai ein paar Wochen zu Hause gewesen sei, dann meint er damit das Berner Oberland.
Da ist Margrit, deren Tochter für das Studium von Porto nach Bern gezogen ist und bei unserer Begegnung hier aber so wirkt, als sei sie zum ersten Mal in Portugal zu Besuch.
Und da sind meine Kinder. Werden sie sich einmal ganz als Portugiesen fühlen, zumal wir ja nicht nur in Lissabon leben, sondern auch ihr Vater aus diesem Land kommt? Werden sie sich eines Tages entscheiden, viel schweizerischer zu werden, als ich es jemals war? Wird die Türkei, aus der ihr Grossvater kommt, ein beliebiges Land für sie sein oder werden sie eine Verbundenheit bewahren, so wie ich es tue, obwohl ich nie dort gelebt habe?
Ist es überhaupt wichtig, sich zu irgendeiner Nationalität zu bekennen? Um sich zu Hause zu fühlen, reicht es doch manchmal auch, mit Gleichgesinnten an einem Tisch zu sitzen und sich gemeinsam für eine Fernsehserie zu begeistern, in der Frauen kleine Drachen zur Welt bringen. Von King's Landing sind wir zumindest alle gleich weit entfernt.
Ümit Yoker (Jahrgang 77) hätte nie gedacht, dass sie je einen grösseren Umzug wagt als einst den vom zugerischen Baar nach Zürich. Doch die Tochter eines Türken und einer Schweizerin sollte die grosse Liebe in Form eines Portugiesen finden, und nach ein paar gemeinsamen Jahren in der Schweiz und der Geburt von zwei Söhnen zieht die Familie 2014 nach Lissabon. Hier hat sich die Journalistin bisher noch keinen Augenblick fremd gefühlt. In ihrem Blog erzählt sie von Neuanfang und Alltag in der Ferne.