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Herr Sommer hat Bindungsängste
Der Himmel in Lissabon ist technicolorblau. Seit Wochen geht das schon so. Es ist so heiss, dass wir dem Stand der Sonne entsprechend durch die Wohnung rotieren, immer auf der Suche nach dem bisschen Brise, das sich je nach Tageszeit in einem anderen Zimmer versteckt. Grandios ist es trotzdem. Es ist Sommer.
«Am Nachmittag steigt die Temperatur auf 17 Grad», sagt die Moderatorin von Radio 24, Stimme meiner Heimat dieser Tage, die auch Sätze wie «Bei Brüttisellen ist Stau» in unser Wohnzimmer in Portugal trägt. Sie versucht, fröhlich dabei zu klingen. Der Sommer, über den sie redet, gleicht einem dieser Männer, dem fast jede Frau, und wenn nicht sie, dann eine ihrer Freundinnen, schon einmal auf den Leim gekrochen ist. Herr Sommer, nennen wir ihn doch so, hatte es nicht leicht im Leben, die Mutter, klar, wer sonst, hat ihm stets zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt und die Trennung von seiner Ex hat er auch noch nicht verarbeitet. Das hindert ihn nicht daran, mit der Hübschen am Tresen ins Gespräch zu kommen, Samstagabend, in dieser Bar, von der gerade alle reden, warum auch nicht, man kann so gut mit ihm reden, wirklich, er ist echt sensibel, sie kommen sich näher, nur ein bisschen, er begleitet sie noch zur Haltestelle, wo der Nachtbus wartet, die laue Nacht umschmiegt sie, ein süsser Anfang. Ein paar Tage später treffen sie sich wieder, zum ersten Mal zieht sie das neue Sommerkleid an, das bis jetzt im Schrank hing, sie sitzen in einem Strassencafé und trinken hausgemachte Limonade, in der Pfefferminzblätter schwimmen, er schaut ein wenig gequält, als sie fragt, ob sie später noch ins Freiluftkino sollen, kaum merkbar ziehen die ersten Wolken auf, ich brauche etwas Zeit für mich, sagt er dann, lass mir mehr Freiraum. Wochenlang hört sie nichts von ihm, sie zieht die Kapuze tief ins Gesicht, die Turnschuhe schmatzen bei jedem Schritt, es regnet in Strömen. Es ist schon weit nach Mitternacht, als das Telefon surrt an diesem Abend, eine Nachricht, von ihm, er ist in derselben Bar, in der sie sich vor Monaten begegnet waren, ich kann nicht aufhören, an dich zu denken, schreibt er, ich muss dich sehen, jetzt gleich, ja? Die nächsten Tage sind wie ein Traum, sie sitzen am Fluss und baden die Füsse im Wasser, händchenhaltend spazieren sie über den heissen Asphalt, aus bauchigen Gläsern schlürfen sie Drinks, die Männernamen tragen. In der Ferne grollt der Donner.
Aber es gibt ja auch andere. Sommer. Männer. Solche, die halten, was sie versprechen. Meiner zum Beispiel sollte jeden Moment nach Hause kommen. Dann packen wir unsere Sachen und gehen mit den Kindern an den Strand.
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Ümit Yoker (Jahrgang 77) hätte nie gedacht, dass sie je einen grösseren Umzug wagt als einst den vom zugerischen Baar nach Zürich. Doch die Tochter eines Türken und einer Schweizerin sollte die grosse Liebe in Form eines Portugiesen finden, und nach ein paar gemeinsamen Jahren in der Schweiz und der Geburt von zwei Söhnen zieht die Familie 2014 nach Lissabon. Hier hat sich die Journalistin bisher noch keinen Augenblick fremd gefühlt. In ihrem Blog erzählt sie von Neuanfang und Alltag in der Ferne.