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Heimweh
Splitterfasernackt steht der Bub auf dem Couchtisch meiner Tante und strahlt uns alle an. Die tönernen Entlein zu seinen Füssen wackeln bedrohlich, als er zum Sprung auf das Sofa ansetzt: Achtung, fertig, los! Herzlich Willkommen im gelobten Land der geheizten Stuben.
Seit einer Woche sind wir in der Schweiz zu Besuch, zum ersten Mal mit beiden Kindern. Es ist Februar, fast ein Jahr ist vergangen, seit wir nach Portugal gezogen sind. Ich würde in Lissabon vieles vermissen, dachte ich damals beim Umzug, Senf und Aromat zum Beispiel, oder die Frauenbadi. Aber sicher nicht: Den Zürcher Winter. Wer sehnt sich schon nach Grau, wenn er Blau haben kann? Wer will es bitterkalt, wenn es auch freundlichmild geht? Doch einmal mehr stellt sich heraus, dass ich mich nicht besonders gut kenne. Denn das Ziehen in meinem Bauch beginnt erst, als ich auf einmal jedes Mal, wenn mein Handy vibriert, ein weiteres Bild eines selig im Schnee stehenden Freundinnenkindes auf meinem Display habe. Meine Söhne sollten doch auch in dicken Jacken stapfen! Schneemänner bauen. An Tannenzweigen rütteln. Eiszapfen lutschen. Sich auf den Boden legen und wild mit Armen und Beinen rudern, bis etwas entsteht, das entfernt an einen Engel erinnert.
Vor allem aber sollten meine Kinder im Winter Temperaturen zu Hause vorfinden, die sich von denen vor der Türe unterscheiden. Mit anderen Worten: Ist es draussen kalt, sollte es drinnen warm sein. Aber so angenehm Nachmittage am Tejo auch im Dezember sein mögen, die Abende im trauten Heim sind es nicht. Pünktlich zum Einbruch der Dunkelheit setzt sich Senhor Frost, oder wie man ihn denn nennen mag, zu einem auf die Couch, und nicht genug, er begleitet auch ins Bett. Ein paar Stunden später schreckt man auf, weil das Kind die Decke von sich gestrampelt haben könnte, und tastet nach seinen Füsschen, und ob die sich jetzt schon anfühlen wie Frischbackbrötchen im Kühlregal. Das Loblied, das wir den Sommer über auf unsere Altbauwohnung angestimmt haben, wird über Nacht zum Klagegesang: Die angejahrten Strukturen ächzen bereits unter der Last eines Wasserkochers, wenn man nicht schlagartig alles andere aussteckt. Tee oder Heizung, man muss sich entscheiden.
Und begegne ich dann endlich mal anderen Schweizern hier, lächeln sie nur, während ich noch lamentiere, ein, zwei strategisch schlau platzierte Kleinöfen, sagen sie dann, bestens assimiliert, das reiche doch vollends aus, hat doch auch etwas Gemütliches, das Ganze, finden sie, taube Nasenspitze hin oder her. Nein, hat es nicht. Für Februar ist der nächste Besuch in der Schweiz geplant. Ich kann es kaum erwarten, wenn sich meine Kinder wieder bei allen Verwandten ausziehen.
Ümit Yoker (Jahrgang 77) hätte nie gedacht, dass sie je einen grösseren Umzug wagt als einst den vom zugerischen Baar nach Zürich. Doch die Tochter eines Türken und einer Schweizerin sollte die grosse Liebe in Form eines Portugiesen finden, und nach ein paar gemeinsamen Jahren in der Schweiz und der Geburt von zwei Söhnen zieht die Familie 2014 nach Lissabon. Hier hat sich die Journalistin bisher noch keinen Augenblick fremd gefühlt. In ihrem Blog erzählt sie von Neuanfang und Alltag in der Ferne.