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Die Macht des Axel
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Ümit Yoker
Ist der Tag bald zu Ende? Ja? Es ist noch dunkel in unserem Schlafzimmer, aber der Morgen hat sich heute schon kurz nach vier Uhr die vorangehende Nacht gekrallt. Der Kleine weint, und während mein Mann zur Mikrowelle hetzt und die Milch aufwärmt, flüstere ich dem Buben ins Ohr, er solle doch bitte seinen Bruder nicht aufwecken. Es heisst ja, Einjährige verstünden schon ganz viel, man müsse nur mit ihnen reden. Und tatsächlich, ein paar Minuten später schlurft sein Bruder zu uns ins Bett, um fortan gegen die Bäuche, Schenkel und Wangen zu treten, die er dort antrifft; toll, wie das mit der Kommunikation von Kleinkindern klappt.
Der Mann rettet sich ins Büro, ich schleppe mich mit den Buben ins Spielzimmer. Nichts wünsche ich mir an diesem Morgen mehr, als dass es schon wieder Zeit für ihre Gutenachtgeschichte wäre und für ein paar Stunden Stille in unser Heim einkehrte. Stattdessen klingt jeder Duplostein, der zu Boden fällt, als hätte Gott ihn wütend vom Himmel geschleudert. Und so tue ich das, was ich schon immer tat, wenn mein Leben gerade so gar nichts mit dem Alltag der Familien in der Nutellawerbung gemein hat: Ich hole mir ein Buch. Es liegt noch eingeschweisst in Plastikfolie auf unserem Schreibtisch, seit Wochen habe ich mich darauf gefreut. Deutsche Wörter, deutsche Sätze, gedruckt auf Papier! So gut es geht, nehme ich mich aus der Duploschusslinie – und beginne zu lesen. Ich lese, wie der Autor, dieser Kolumnist aller Kolumnisten, seinem Sohn manchmal mitten in der Nacht ein kaltes Bügeleisen in die Hand drücken muss, damit sich dieser beruhigt, wie ihn samstägliche Brötchenkäufe mit der Kinderschar, das Aufhängen von Vorhangstangen und Urlaub jedweder Art in den Wahnsinn treiben. Ich falle fast vom Sofa vor Lachen, meine Augen, die vor Müdigkeit brennen, tränen, ich lache so laut, dass sich irgendwann ein Kinderkopf zwischen das aufgeschlagene Buch und mich schiebt, sich nach rechts dreht und nach links, und dort nichts findet als schwarzes Gekritzel auf weissem Grund. Was soll daran lustig sein? Der Bub, der seine Mutter in den vergangenen Monaten im besten Fall matt lächeln sah, da ihr für aufwendigere Ausdrucksformen von Heiterkeit die Energie fehlte, blickt mich fragend an. Das, mein Sohn, ist die Macht des Wortes. Und: Deine Mutter mag alles andere als lustig sein. Axel Hacke ist es zweifellos.
Ümit Yoker (Jahrgang 77) hätte nie gedacht, dass sie je einen grösseren Umzug wagt als einst den vom zugerischen Baar nach Zürich. Doch die Tochter eines Türken und einer Schweizerin sollte die grosse Liebe in Form eines Portugiesen finden, und nach ein paar gemeinsamen Jahren in der Schweiz und der Geburt von zwei Söhnen zieht die Familie 2014 nach Lissabon. Hier hat sich die Journalistin bisher noch keinen Augenblick fremd gefühlt. In ihrem Blog erzählt sie von Neuanfang und Alltag in der Ferne.