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Das Zeug mit dem Dings
Jede Familie hat so ein Dings, behaupte ich. Vielleicht gehört so ein Dings sogar in jeden gut funktionierenden Haushalt, wer weiss. Einige haben dieses Dings sicher längst entsorgt, bei anderen liegt es irgendwo auf dem Estrich oder im hintersten Winkel des Einbauschranks. Das gute Ding ist quasi prädestiniert, um herumzuliegen, denn es ist eines jener Spielzeuge, das in der Vorstellung enorm viel Spass macht, in der Anwendung aber äusserst wenig. Die Rede ist von Slinky – auch das ist typisch für dieses Ding: Nur die wenigsten wissen, wie es heisst. Slinky sieht aus wie eine Feder, ein spiralförmiges Etwas, manchmal aus Stahl, manchmal aus Plastik; farbig oder metallic. Die Aufgabe von Slinky wäre es, eigenständig eine Treppe hinunterzuwandern. Das sähe dann sehr geschmeidig aus, wäre ein schönes physikalisches Schauspiel. De facto funktioniert das aber nur, wenn die Treppenstufen jene für Slinky ideale Tiefe haben, sprich ziemlich kurze, aber nicht zu kurze Treppenstufen. Nun werden Treppen aber so designt, dass man sie gut beschreiten kann, ergo bieten die Treppenstufen genügend Platz für Füsse aller Art, was wiederum zur Folge hat, dass Slinky auf praktisch keine Treppe elegant hinunterfedert. Epic Fail, würde man heute sagen, die Treppe zum Spielzeug müssen wir uns zuerst bauen.
Wie dem auch sei, als Kind hatte ich einen metallenen Slinky. Zwei, drei Mal probierte ich erfolglos, Slinky wandern zu lassen. Aber – und das ist ein weiteres Charakteristikum – auch wenn Slinky nicht funktioniert, man wirft ihn nicht weg. Slinky ist ein faszinierendes Ding. Wir nehmen ihn gerne in die Hand, lassen die Ringe aufeinanderfallen und erfreuen uns daran, wie schön gleichmässig sie sind. Bis, ja, bis sich Slinky verheddert. Verkeilen sich die Ringe, ist Slinky nicht mehr perfekt, dann ist Slinky nur noch Schrott. Weil er dann nicht mal mehr Nicht-Wandern kann. Immer wieder verhedderte sich mein Slinky, immer wieder hat ihn meine Mutter entwirrt. Zwanzig, dreissig, vielleicht hundert Mal. Ich wusste: Auch wenn sich mein Slinky tausendfach verheddert, Mami wird es wieder hinbiegen. Ich selbst hätte weder die Geduld, noch den Nerv gehabt, Slinky zu entwirren, vor lauter Ringen sah ich keine Spirale mehr. Schnell gab ich auf, aber ebenso schnell hatte ich ihn zurück.
Heute haben wir wieder einen Slinky, er gehört meinem Stiefsohn Ben. Ich musste ihm erst erklären, dass Slinky dazu gedacht ist, eine Treppe hinunterzuwandern. Ausprobiert haben wir es nie. Jahrelang lag er vor allem in einem Setzkasten. Aber immer mal wieder begegnet mir der Slinky, er liegt da, in sich verstrickt und jedes Mal lese ich ihn auf und entwirre ihn. Ich kann nicht anders, es ist ein Reflex. Danach fühle ich mich stets etwas besser, ab und zu macht es sogar Spass. Manchmal denke ich, vielleicht ist Slinky gar nicht dazu da, Treppen zu wandern, womöglich hat er eine ganz andere Aufgabe.
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Reto Hunziker ist 1981 im Aargau geboren, aber das muss noch nichts heissen. Er hat Publizistik, Filmwissenschaft und Philosophie studiert und auch das muss noch nichts heissen. Er arbeitet als freier Journalist und als Erwachsenenbildner und versucht daneben, dem ganz normalen Wahnsinn in einer Patchwork-Familie (Frau, Tochter und Stiefsohn) mit Leichtigkeit und gesundem Menschenverstand zu begegnen – das will was heissen. Alle Blog-Beiträge von Reto Hunziker finden Sie hier.