Blog
Ausgebrannte, gestresste Kinder
Gut, dass 2015 beinahe rum ist, die Kinder können kaum noch geradeaus gucken. Zum Glück haben sie jetzt die letzte Woche Schule vor den Ferien und dann ist erstmal eine Weile Ruhe. Soviel Ruhe eben in einer fünfköpfigen Familie sein kann, die in der Vorweihnachtszeit einmal der Länge nach durch Deutschland fährt und über die Feiertage alle möglichen Leute trifft. Eustress quasi, falls euch das noch etwas sagt. Einer der Bildungsfetzen, die bei mir aus dem Biologieunterricht noch hängen geblieben ist: Negativer (Distress) und positiver (Eustress) Stress. Und genau darum geht es. Um den ganzen negativen Stress für Kinder. Denn auch wenn ich als berufstätiger Erwachsener und Verantwortlicher für die Rasselbande gerade zum Ende des Jahres hin, wenn alles schnell noch irgendwie fertig gemacht und man anschliessend gefälligst in besinnliche Stimmung zu kommen hat, ziemlich viel um die Ohren habe, ist das nichts gegen das, was mein Nachwuchs zu stemmen hat. Mag sein, dass ich mich wie ein zu kleines Stück Butter fühle, dass man zu dünn aufs Brot gestrichen hat – meine Kinder wirken so abgehetzt wie Triathleten. Fehlt nur noch, dass sie sich, wenn sie aus der Schule kommen, noch in der Haustür stehend ein Glas Wasser ins Gesicht schütten. Auf zur nächsten Etappe. Essen, Schularbeiten, Aufräumen, geh doch auch mal an die frische Luft, Kind! Machen, tun, tralala. Die wenigen Nachmittagsstunden werden gnadenlos vollgestopft. Los, das kann/muss/sollte auch noch gemacht werden! Dabei hatten wir uns doch vorgenommen, den Alltag möglichst stressfrei zu gestalten. Klappt aber nicht so richtig. Und die Schule, die gerne schon mal verflucht wird, macht ja auch nur, was sie soll. Wen kann man bloss für diesen ganzen Stress verantwortlich machen?
Alle und jeden. Mich, euch, ihn und sie. Schwarze Nullen und Wachstumsraten. «Das wird noch alles richtig schlimm!», «Yolo!» und «Jede/r ist seines eigenen Glückes Schmied.» War das schon immer so? Fang ich deswegen wirklich mit 35 mit «früher» und «damals» an? Es scheint so. Früher gab es Langeweile, die sich so lange zog, bis man eine tolle Idee hatte. Früher gab es Zeit, in der man Dinge tat. Heute gibt es Dinge, für die man Zeit braucht die man kaum hat. Aber fand ich das damals auch schon so super oder kommt mir das nur retrospektiv so vor?
Vorsichtshalber fangen wir mit der Langeweile gar nicht erst an. Nachher ist die nur öde und überhaupt nicht kreativ. Ausserdem gibt es viel zu viele Dinge zur Erholung zu tun.
Wer war noch mal Schuld an dem Dilemma?!
Nils Pickert (1979), geboren in Ostberlin, nach dem Mauerfall mit einer waschechten Kreuzbergerin angebändelt. Gegenwärtig 4 Kinder: Emma (12), Emil (10), Theo (2½) und Maja (bald 1). Arbeitet als freier Journalist für diverse Medien und als Weltverbesserer bei dem Verein Pinkstinks, der sich unter anderem gegen Sexismus in der Werbung engagiert. Wurde von der «Weltwoche» mal als «maximal emanzipierter Mann» beleidigt, findet aber, dass ihm der Titel steht. Bloggt für «wir eltern» über Alltag mit Kindern, gleichberechtigtes Familienleben, neue Väter, Elternbeziehungen, Erziehungswahnsinn. Alle Blogg-Beiträge von Nils Pickert finden Sie hier.