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Ab jetzt dürftmüsst ihr mehr Kinder haben!
In China wird es ab sofort mehr Kinder geben. Schluss mit der Ein-Kind-Politik, jetzt dürfen es zwei pro Familie sein. Wobei es eigentlich nicht um «dürfen» sondern um «müssen» geht.
Denn die chinesische Gesellschaft hat ein massives Überalterungsproblem. Es gibt einen deutlichen Überschuss an Männern – der unter anderem darauf zurückzuführen ist, dass weibliche Föten häufiger abgetrieben werden, weil die konfuzianische männliche Erblinie unbedingt erhalten werden soll. Keine schönen Aussichten. Aber das soll ja jetzt alles anders werden. Ab sofort gilt die Zwei-Kind-Politik. Das Dumme ist nur, dass mit der Ein-Kind-Politik in der Dynamik der Gesamtbevölkerung derartig verändert und beschädigt wurde, dass die erhoffte Wende ausbleiben wird. Wie sie auch schon 2013 ausgeblieben ist, als beschlossen wurde, Einzelkinder dürften mehr als ein Kind haben. Der prognostizierte Boom fand nicht statt. Warum auch?! Warum sollten Menschen, die man in so einer zentralen Frage wie die der Familienplanung bevormundet, gegängelt und erpresst hat, plötzlich ein entspanntes Verhältnis zu ihr entwickeln? Wenn die Kernaussage jahrzehntelang gleichbleibend lautet, dass Kinder problematisch seien, wieso sollten es zwei Kinder auf einmal nicht sein? Und bei diesen Problemen hört es nicht auf: Millionen von Wanderarbeitern ziehen rechtlos und ohne Möglichkeit der Partizipation durchs Land. Menschen versuchen, ihren Teil vom kapitalistischen Wohlstandsversprechen zu realisieren, während sie zugleich verzweifelt darum kämpfen, kommunistischen Idealen gerecht zu werden. Kinder werden in den Städten zum Wohlstandsaccessoire, dass sich kaum jemand mehr leisten kann, und bleiben auf dem Land trotz entsprechender Verbote dringend benötigte Arbeitskraft.
Man könnte das jetzt alles sehr fern von uns wähnen. In einem weit entfernten Land haben Menschen weit entfernte Probleme. Tatsächlich gibt es aber auf diesem Planeten immer mindestens eine Gesellschaft, die sich mit Problemen herumschlägt, die die eigene gerade überwunden hat, und eine Gesellschaft, die in Problemen steckt, auf die die eigene gerade zusteuert. Deshalb lohnt sich der Blick über den Tellerrand. Denn dort bewegen wir uns hin, wenn auch ohne dabei kommunistische Lieder zu pfeifen. Die Nationalistischen Kräfte im deutschsprachigen Raum versuchen «ihr» Volk dazu zu bewegen, die zugereisten zu übervögeln. Frauen verrichten immer noch die meisten Care-Tätigkeiten und werden schlechter im Job bezahlt. Und irgendwer schimpft immer auf «Rabenmütter!» oder erkundigt sich konsterniert, wieso Mann mehr als die üblichen zwei Vätermonate nehmen will. Was noch? Social Freezing, Rush Hour des Lebens, bruchlose Erwerbsbiografie, mal vorankommen im Beruf. Werden Sie bloss keine Helikoptereltern. Machen Sie gefälligst. Das muss schneller gehen.
Wer entscheidet sich da noch für ein Kind, geschweige denn für mehrere?
Nils Pickert (1979), geboren in Ostberlin, nach dem Mauerfall mit einer waschechten Kreuzbergerin angebändelt. Gegenwärtig 4 Kinder: Emma (12), Emil (10), Theo (2½) und Maja (bald 1). Arbeitet als freier Journalist für diverse Medien und als Weltverbesserer bei dem Verein Pinkstinks, der sich unter anderem gegen Sexismus in der Werbung engagiert. Wurde von der «Weltwoche» mal als «maximal emanzipierter Mann» beleidigt, findet aber, dass ihm der Titel steht. Bloggt für «wir eltern» über Alltag mit Kindern, gleichberechtigtes Familienleben, neue Väter, Elternbeziehungen, Erziehungswahnsinn. Alle Blogg-Beiträge von Nils Pickert finden Sie hier.